Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

52 AUS DEM LEBEN VON GERTRUD ZILLIKENS Ihre Mutter, so erinnert sich Gertrud Zillikens, wäre zeitlebens gern nach Ostpreußen zurückgekehrt, aber nicht zu einem kur- zen Besuch, sondern dauerhaft. Eine durchaus mögliche Be- sichtigungstour habe sie hingegen stets abgelehnt. „Das wollte sie nie. Vielleicht aus Angst, dass sie das nicht verkraftet. Ich weiß es nicht.“ Im Rheinland sucht Mutter Katharina kaum Kontakte. Sie habe nach den schweren Anfangsjahren zwar immer eine schön ein- gerichteteWohnung gehabt, dort bis auf wenige lockere Bekannte aber nur wenig Besuch empfangen. 1973 stirbt sie in Hochneu- kirch. Bis zu ihrem Tod herrscht hinsichtlich der ostpreußischen Vergangenheit und der Flucht familienintern eine große Sprach- losigkeit. „Meine Mutter, die hat überhaupt nicht davon gespro- chen, nie was gesagt.“ Beide Schwestern schlagen hingegen den gleichen Weg wie Gertrud ein: Sie lernen einheimische Männer kennen, heiraten, bauen ein Haus und führen glückliche Ehen. Gertrud Zillikens selbst hat Ostpreußen zwischenzeitlich bereits dreimal besucht. Beim ersten Mal ist die Anspannung groß, löst sich dann aber schrittweise. Ihr Elternhaus steht noch, sogar die Hausnummer 40 befindet sich noch am Ge- bäude. Ihr wird sogar erlaubt, das Haus zu betreten. Sie wisse bis heute nicht, wie sie überhaupt die Eingangstreppe hochge- kommen sei, umschreibt Gertrud Zillikens ihre damit verknüpfte Aufgeregtheit und Ergriffenheit. Die Polen, die das Anwesen später erworben haben, führen die Besuchergruppe bereitwillig im ganzen Haus herum. „Ich kann gar nicht sagen, wie ich das aufgenommen habe.“ Anschließend wird die ehemalige Tannenbergstraße, in der das Elternhaus steht, besichtigt und dabei viel Altbekanntes wiederentdeckt - unter anderem das kleine Geschäft, in dem Gertrud in ihrer Kindheit häufig eingekauft hat. „Auf einmal kommt eine Frau auf uns zugelaufen und fragt: ‚Sind Sie deutsch?‘“ Als Gertrud Zillikens das bejaht und ergänzt, dass sie früher mit ihrer Familie in der Straße in der Hausnummer 40 gewohnt habe, kommt die Gegenfrage: „Sagen Sie bloß, Sie sind eine von den Riedigers?“ Nun ist das Eis endgültig ge- brochen. Die Frau, die so unverhofft die Brücke in die Vergan- genheit geschlagen hat, wird mit Mitbringseln aus Deutschland reich beschenkt. Man trinkt gemeinsam vom mitgebrachten Kaffee und plaudert über die „alten Zeiten“. „‚Bist Du etwa die Kleine, die immer die Tomaten hier gekauft hat?‘ – ‚Ja, das bin ich.‘ Da konnte sie sich noch dran erinnern!“ Es sind solche Erlebnisse und Erinnerungen, die Gertrud Zillikens bis heute immer wieder vor Augen führen, dass Ost- preußen ihre Heimat war und bleibt. „Hier fühle ich mich wohl. Wir haben auch alles, und uns geht es gut“, antwortet sie auf die Frage, ob sie am Niederrhein heimisch geworden ist. Doch dann kommt das große Aber: „Die Heimat zieht mich immer wieder dahin.“ Wenn Sie und ihr Mann nicht so alt wären, so das etwas bedrückende Fazit, würden sie gerne noch einmal nach Braunsberg fahren – „aber das schaffen wir nicht mehr“. So müssen Erinnerungen und Bücher über Ostpreußen, Krieg, Flucht und Vertreibung ausreichen, die Gertrud Zillikens immer wieder zur Hand nimmt. Außerdem hat sie die „Brauns- berger Hefte“ abonniert, durch die regelmäßig ein kleiner Hauch von Heimat durch das niederrheinische Zuhause weht. Ihr eigenes Schicksal beeinflusst auch Gertrud Zillikens Um- gang mit der aktuellen Flüchtlingskrise und deren medialer All- gegenwärtigkeit in Wort, Ton und Bild. „Die muss ich sehen“, stellt sie mit Blick auf die zahlreichen themenbezogenen Fern- sehsendungen fest, obwohl ihr Mann ihr das gern ersparen möchte. Sie aber besteht darauf und kennt auch die Folgen: „Dann grübele ich darüber nach, wie das alles gewesen ist“ – und findet anschließend nur schwer in den Schlaf. Denn nachts kommt die Mischung von aktuellen Geschehnissen und eigenen Erinnerungen am stärksten zum Ausdruck. „Dann liege ich die halbe Nacht wach und denke darüber nach. Da denke ich fast jeden Abend drüber nach. Da muss ich ehrlich sein.“ „Ich kann gar nicht sagen, wie ich das aufgenommen habe.“ – Rückkehr nach Ostpreußen Hausbau in Hochneukirch, Januar 1965

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