Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

54 AUS DEM LEBEN VON GERTRUD ZILLIKENS früherer Erlebnisse immer sehr fasziniert. Als Beispiel hierfür nennt er seinen Wunsch, das Gymnasium zu besuchen, eine für seine Eltern völlig fremde Welt. Seine Mutter habe wegen der langen Jahre auf der Flucht keinen Schulabschluss und deshalb Angst gehabt, ob sie ihren Sohn bei einem Besuch des Gymnasiums überhaupt hinreichend unterstützen könne. Solche Sorgen vor ihr unbekannten Situationen hätte insbe- sondere das Verhalten der Mutter stets stark bestimmt. „Sie hat sich immer intensive Sorgen gemacht“, was der Sohn auf die schweren Erfahrungen der Jahre zwischen 1945 und 1955 zurückführt. „Da kamen all diese Dinge aus der Vergangenheit, die sie erleben musste, immer wieder hoch und hat das dann in diesen Kontext gebracht.“ Seine erste Konfrontation mit der Vergangenheit habe er selbst bei seiner Erstkommunion erlebt, erinnert sich Harald Zillikens. Die Erwachsenen hätten untereinander „Dinge er- zählt“. Das habe erstmals seine Aufmerksamkeit und sein Inte- resse geweckt: „Was ist denn da gewesen?“ Das habe sich auch auf die beiden Schwestern seiner Mutter, zu denen ein gutes Verhältnis bestanden habe, bezogen. „Dann wurde nach und nach ein Bild daraus.“ Wenn das zunächst auch eher „spär- liche“ Konturen gewonnen habe, sei daraus dann nach und nach sein generelles Interesse an Geschichte erwachsen. Das Verhältnis zur ostpreußischen Großmutter sei allerdings nie eng oder gar herzlich gewesen, erinnert sich Enkel Harald. Sie sei ein „sehr harscher und abweisender Typ“ gewesen, der Kinder nicht gerade angezogen habe. „Sie war verbittert und hart.“ Der ostpreußische Dialekt der Oma habe ihn hingegen immer fasziniert. Den habe er immer schön gefunden, wobei Harald Zillikens bedauert, dass das „alles verloren“ gehe. Er sei sich seiner Rolle als Kind eines Flüchtlings in seiner Kindheit recht schnell bewusst geworden, erzählt er weiter, ohne dass ihm in Hochneukirch irgendwelche Vorurteile ent- gegengebracht oder gar Nachteile daraus erwachsen seien. Sein aktiver und selbstverständlicher Umgang mit diesem Sta- tus wird zudem dadurch gefördert, dass auch die Mutter eines engen Schulfreundes aus Westpreußen geflohen ist. „Da haben wir uns dann häufiger drüber ausgetauscht und erzählt.“ Auch mit dessen Mutter kann der damals etwa Zwölfjährige über das Thema sprechen, ebenso mit der netten Oma des Schul- freundes, die sie nach Schulschluss manchmal besuchen und die ihnen – allerdings immer erst nach Aufforderung – Ge- schichten aus Westpreußen erzählt. Seine Mutter selbst habe zu ihrer persönlichen Vergangen- heit durchaus einiges, „aber nie alles“ erzählt. Daher bleibt es für Harald Zillikens lange unerklärlich, warum seine Mutter ein sehr schwieriges Verhältnis zu Schiffen und Wasser hat. „Meine Mutter war“, so berichtet er aus seiner Kindheit, „nie bereit auf ein Schiff zu gehen.“ Bei Familienausflügen an den Rursee in der Eifel in den 1960er und 1970er Jahren sei bei ihr immer wieder der für ihn als Kind völlig unverständliche „totale Horror“ vor dem Betreten eines Schiffes aufgebrochen. Nachdem er dann später die ganze Fluchtgeschichte mit der dramatischen Überfahrt nach Dänemark erfahren habe, sei natürlich alles klar geworden. Die Erlebnisse seines Vaters, der während des Krieges zeit- weise in einem KLV-Lager untergebracht war, seien die weitaus harmloseren gewesen, über die auch gesprochen worden sei. Das habe ihn dann aber noch neugieriger gemacht, schildert Harald Zillikens den Prozess der allmählichen Annäherung an die individuellen Kriegsschicksale beider Elternteile. „Wie war das denn wirklich?“ Dieses wachsende Interesse führt 2005 schließlich dazu, dass er sich mit Eltern, Frau und den beiden – für eine solche Unternehmung eigentlich noch zu jungen – Töchtern auf die gemeinsame Reise nach Ostpreußen begibt. Unterkunft findet die sechsköpfige Reisegruppe in einem kleinen Hotel in Brauns- berg. „Das war ein Familienausflug in die Vergangenheit“, schil- dert er die Erlebnisse. Man sei ganz bewusst jene Wege ge- gangen, über die seine Mutter zuvor immer erzählt habe – „von Zuhause zur Kirche, zur Schule“. Allerdings habe man nicht den Fluchtweg aus dem Kessel von Heiligenbeil über das Haff auf die Nehrung gehen können, weil dieses Gebiet nicht zu Po- len, sondern zu Russland gehöre. „Das war schon emotional, weil ich den Bezug meiner Mutter dahin hatte. Das war eine einmalige Situation, die ich auch bewusst so erleben wollte.“ Aber auch seine Mutter habe ungeahnte Energien entwi- ckelt. Obwohl sie zu dieser Zeit gesundheitlich angeschlagen gewesen sei und während des einwöchigen Aufenthalts in Braunsberg große Hitze geherrscht habe, sei sie „rumgesprun- gen, als wäre sie 18“. Während alle anderen unter der Hitze ge- litten hätten, habe Gertrud Zillikens immer neue Wege vorge- schlagen, die man unbedingt noch gehen müsse. „Es hätten auch drei Meter Schnee liegen können, das wäre alles egal ge- wesen“, umschreibt Sohn Harald die ungeahnten Energien, die seine Mutter angesichts der hautnahen Konfrontation mit ihrer alten Heimat entwickelt habe. Während die Eltern nach einer Woche ins Rheinland zurück- fahren, begibt sich Harald Zillikens mit Frau und Töchtern noch auf eine weitere historisch inspirierte Exkursion: Masuren mit der „Wolfsschanze“, Berlin mit dem Reichstag und anderen ge- schichtsträchtigen Orten. Das sei für seine kleinen Töchter vielleicht „etwas schwierig“ gewesen, gesteht der geschichts- interessierte Vater ein, aber sie würden manchmal heute noch von dieser sehr persönlichen Reise in die Vergangenheit er- zählen. Auf seine „Identität“ hin angesprochen, sieht sich Harald Zil- likens von beiden Elternteilen geprägt: die „Leichtigkeit des Niederrheiners, der mal gern feiert und fröhlich ist, aber auch die Ernsthaftigkeit des Preußen“. Dabei hätte ihn besonders

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