Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

55 AUS DEM LEBEN VON GERTRUD ZILLIKENS die Einstellung seiner Mutter zur Arbeit immer fasziniert und damit natürlich auch das, was sie geleistet habe. „Die ist mor- gens um drei Uhr aufgestanden und ist zu einer Putzstelle ge- gangen, war aber um ½ 7 wieder hier und hat ihre Kinder ver- sorgt. Dann ist sie wieder arbeiten gegangen, und wenn wir aus der Schule kamen, stand das Essen auf dem Tisch. Das alles mit einer unglaublich hohen Disziplin und der Zurückstel- lung jedweder eigner Interessen.“ – Diese Beschreibung erin- nert an die Rolle, die bereits der jungen Gertrud im Rahmen der Fluchtereignisse aufgebürdet worden war. Außerdem habe gerade seine Mutter ihm einen hohen Grad an Optimismus vermittelt. „Wir schaffen das schon“ sei stets ihre Devise gewesen - auch und gerade in schwierigen Situa- tionen. Das führt Harald Zillikens nicht zuletzt auf deren dra- matische Erlebnisse während der Flucht zurück. „Da lässt Dich die eigene Mutter zurück!“ Ihn habe zeitlebens fasziniert, dass seine Mutter in bedrohlichen Situationen immer genau anders gehandelt habe. Pessimismus oder Skepsis suche man bei ihr vergeblich. „Für meine Mutter ist jeder Mensch erst einmal gut. Und jedem muss geholfen werden.“ Heute ist Harald Zillikens Bürgermeister der Gemeinde Jü- chen und in dieser Funktion fast tagtäglich mit dem aktuell starken Zuzug von Flüchtlingen und den damit verknüpften Problemen konfrontiert. Natürlich spiele für ihn dabei auch seine persönliche Vergangenheit eine Rolle, erklärt er. Daraus hat er für sich auch den Schluss gezogen, Dinge nie vorschnell pauschal zu beurteilen, sondern vor einer Entscheidung mög- lichst den konkreten Einzelfall zu betrachten. Eins steht für ihn aufgrund vielfältiger eigener Erfahrungen völlig außer Frage: „Wir sind verpflichtet, diesen Leuten zu hel- fen.“ Natürlich seien damit einige Bedingungen verknüpft, vor allem jene, dass die Neuankömmlinge das deutsche Rechts- system und die in ihm garantierten Grundrechte akzeptieren und befolgen müssten. Sorge und Angst bereiten Harald Zillikens radikale Äuße- rungen, die nicht nur an Theken von Gastwirtschaften, sondern selbst von demokratisch gewählten Kreistagsabgeordneten zu vernehmen seien und die Flüchtlingen gegenüber eine völlige Ablehnung und eine latente Gewaltbereitschaft zum Ausdruck bringen würden. Das sei etwas, so schlägt er den Bogen von kommunaler Verantwortung zur familiären Vergangenheit, was seiner Mutter in Teilen damals ja auch entgegengeschlagen sei. „Was sollen wir mit den Polacken? Ihr nehmt uns das weg, was wir haben.“ Dabei, so betont er, sei es heute noch weitaus „krasser, denn wir haben ja ganz viel“. „Wir leben in einem un- glaublichen Luxus und vier Fünftel der Weltbevölkerung wären froh, wenn sie unsere Probleme hätten.“ Während sich viele Menschen hier Gedanken darüber machen würden, wie sie auf ihren Autos nach der Durchfahrt durch eine hochmoderne Waschstraße Kalkflecken entfernen könnten, würden unge- zählte Menschen sich mit dem Problem konfrontiert sehen, überhaupt Trinkwasser zu bekommen. „Ein bisschen Gänsehaut-Feeling“ - Die Enkelin Wenn die Oma ihr und ihrer Schwester von früher erzählt habe, so Enkelin Katrin Zillikens, wäre es zumeist um die Erlebnisse während der Flucht gegangen. Ausgehend von ganz normalen Alltagsthemen sei es zumeist nur ein kleiner Sprung zu den Erinnerungen an die Flucht gewesen. Eine große Rolle habe dabei häufig die Katze gespielt, die die kleine Gertrud 1945 in Braunsberg habe zurücklassen müssen. Es sei natürlich schwierig, sich in die Gefühlswelt der Oma hineinzuversetzen, aber sie habe doch viel von dem verstanden, was erinnert und erzählt worden sei. Zum Glück, so betont die Achtzehnjährige, sei das Thema „Flucht und Vertreibung“ in der Familie nie totgeschwiegen, sondern offen und aktiv disku- tiert worden. „Und das finde ich auch gut.“ Manchmal habe sie dabei sogar „ein bisschen Gänsehaut-Feeling“ verspürt. Ange- hörige ihrer Generation könnten sich eben überhaupt nicht vor- stellen, wie man mehrere Wochen nur von Kartoffelschalen le- ben könne. Die Reise der Familie nach Ostpreußen sei in keinem Fall ein „Urlaub wie immer“ gewesen, ordnet Katrin die Fahrt im Jahr 2005 ein, schränkt jedoch ein, dass sie sich nicht mehr an viel erinnern könne. Dafür sei sie damals wohl zu jung ge- wesen. Dennoch hat das Gedächtnis einiges gespeichert, unter anderem das Elternhaus der Oma, das man gemeinsam be- sucht und besichtigt habe. Insbesondere die für sie damals of- fenbar recht irritierenden großen Unterschiede in den Wohn- standards in ihrer niederrheinischen Heimat und jenen in Ostpreußen stehen ihr noch deutlich vor Augen. Die Fähigkeit, die zumeist dramatische Lage von Menschen auf der Flucht zu verstehen, so glaubt Katrin Zillikens, werde dadurch erhöht, wenn man selbst mit Menschen sprechen könne, die etwas Derartiges erlebt haben. Ihr jedenfalls hat der offene innerfamiliäre Umgang mit dem Thema geholfen, sich zumindest etwas in die Lage davon Betroffener zu versetzen. „Ja, es ist schon so, dass man sich überlegt, wie es denen ge- hen kann“, erklärt sie mit Blick auf die Lage der sich aktuell auf der Flucht befindlichen Menschen. „Wahrscheinlich so ähnlich, wie das die Oma erzählt hat, weil die auch alles zurücklassen müssen.“

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