Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

6 F lucht“ und „Flüchtlinge“ sind in den letzten Jahren zu Kern- begriffen der aktuellen politischen Diskussion geworden und bestimmen nicht nur die Meldungen und Bilder der Massenmedien, sondern in erheblichem und oft bedenklichem Maße das politische Klima in Deutschland und in Europa. Genau zu diesem Zeitpunkt fasste die Gemeinde Jüchen den Entschluss, mit demThema „Flucht und Vertreibung“ in den Jahren nach 1945 ein Stück der eigenen Ortsgeschichte aufarbeiten zu lassen, damit das damals für die von oft erheblicher Zuwanderung betroffenen Ortsteile wichtige, für die Einheimischen oftmals beunruhigende und sehr lange kontrovers diskutierteThema nicht vollends in Ver- gessenheit gerät. Vielleicht kann das hiermit vorgelegte Ergebnis der Forschungsarbeit nicht nur dazu beitragen, wesentliche Teile der Geschichte Jüchens und seiner Ortsteile in den ersten Jahren nach 1945 dauerhaft zu konservieren, sondern zugleich auch helfen, die aktuellen, ja auch auf brutale kriegerische Auseinandersetzungen zurückzuführenden Fluchtbewegungen besser zu verstehen und insbesondere dieMenschen, die in großer Not ihre Heimat verlassen mussten, unvoreingenommen willkommen zu heißen und ihnen bestmöglich zu helfen. Es sei aber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich hier lediglich um eine historische Untersuchung handelt. Die allerdings galt es umfassend anzulegen, soll mit demResultat doch mehrerlei erreicht werden. Sowohl das Buch als auch der im Frühjahr 2018 folgende Internetauftritt sollen einen umfassenden Einblick in die damaligen Ereignisse, Erlebnisse, Entscheidungen undHandlungen gewähren. Das gilt für alle Beteiligten und für deren konkrete da- malige Lebensumstände. Hierzu einige Erläuterungen. Gerade die Jahre von 1944 bis 1948 waren in Deutschland von einer ausgeprägten Ungleichzeitigkeit „großer“, weltpolitisch re- levanter Geschehnisse vor allem an den Reichsgrenzen imWesten und imOsten und lokaler Ereignisse wie etwa auf dem Gebiet der heutigen Gemeinde Jüchen geprägt. Aber gleichgültig, ob „groß“ oder „klein“ – stets waren von den jeweiligen AuswirkungenMen- schen betroffen, die das Schicksal auf ihrem weiteren Weg dann häufig im „Kleinen“ zusammenführte und, ob sie nun wollten oder nicht, zum Zusammenleben zwang. Diesen von ungezählten ne- gativen, durchaus aber auch positiven Begleiterscheinungen ge- säumten Weg gilt es im Folgenden so nachzuzeichnen, dass alle mit den großen Bevölkerungsverschiebungen der unmittelbaren Nachkriegszeit zusammenhängenden Erscheinungen, Probleme und Chancen zumindest in Ansätzen verständlich und nachvoll- ziehbar werden. Hierzu nur einige knappe Anmerkungen: Während des Kriegs und danach waren in Europa etwa hundert Millionen Menschen „unterwegs“, die ihreHeimat für immer oder für längere Zeit verlas- sen mussten. 1 Insgesamt erlebte die Welt in diesem Zeitraum die zahlenmäßig größte (Zwangs-) Wanderung der Geschichte über- haupt. 2 Mit Blick auf Deutschland hielten sich 1945 rund zwei Drit- tel der Bevölkerung nicht an ihren angestammtenWohnplätzen auf. Hinzu kamen verschiedene „Ungleichzeitigkeiten“, denn bereits in der Datierung des Kriegsendes unterschieden sich die Perspektiven erheblich: Das „private“ Ende des Krieges war für viele nicht identisch mit dem „offiziellen“ der Kapitulation am8. bzw. 9. Mai 1945, denn die meisten Menschen waren bereits zuvor von alliierter Besetzung betroffen, während andere noch jahrelang in Gefangenschaft aus- harren mussten oder sich auf der Flucht befanden. Daher dürfte wohl nur eine Minderheit der Deutschen das Kriegsende als „Be- freiung“ empfunden haben. 3 Ein solches Szenario erfordert für diese Studie einen entsprechend umfassenden Ansatz. So gilt es die Ereignisse im damaligen Osten Deutschlands ebenso nachzuzeichnen wie die daraus resultierenden Folgen der Flucht und der nach Kriegsende einsetzenden Vertrei- bungen. Wie wollte man sonst Gemütslage, Verhalten und Perspek- tiven jener verstehen, die auf oftmals verschlungenen, in aller Regel dramatischen (Um-)Wegen ihrenWeg von dort an denNiederrhein fanden? Es gilt auch danach zu fragen, wie Besiegte und Sieger auf die völlig unübersichtliche, weil bis dahin einmalige „Völkerwande- rung“ von Ost nachWest reagierten. Aber natürlich gilt es auch die Lage imWestenDeutschlands zu ergründen.Wie wirkten sich Bom- benkrieg und Evakuierungen, der Einmarsch der alliierten Streitkräfte und die damit verknüpfte Befreiung der so zahlreichen, während des Krieges zur Arbeit nachDeutschland gezwungenen und nun als „Displaced Persons“ geltenden Menschen aus? Wie versuchte man der zahllosen Probleme der unmittelbaren Nachkriegszeit vor Ort Herr zu werden, und wie reagierten die Verantwortlichen und die einheimische Bevölkerung dann auf den immer weiter anschwellen- den Zuzug Geflohener und Vertriebener in ihre Kleinstädte und Dörfer?Wie veränderte sich die Stimmungslage, als klar wurde, dass es sich hierbei nicht um ein kurzes Nachkriegsintermezzo, sondern um einen Dauerzustand handelte? Und wie wiederum verhielten sich die entwurzelten Ankömmlinge dort, wo nun dauerhaft ihre neue „Heimat“ sein sollte?Wie arrangierten sie sichmit der erzwun- genen Situation? Zeigten sie sich integrationswillig oder hofften sie doch weiterhin auf ihre Rückkehr? Das alles - und einiges mehr – gilt es zu untersuchen undmit- und gegeneinander abzuwägen, um ein halbwegs nachvollziehbares Bild der beispiellosen Konstellation jener Jahre zeichnen und damit zum Verstehen beitragen zu können. Ehe wir uns auf diesen zwangsläufig sperrigen und langen Weg begeben, sollen einleitend die Parameter skizziert werden, unter denen das geschieht. „Forschungslage“ und „Quellenstand“ sind hierbei die Kernbegriffe, die das zu beackernde Terrain abstecken, gangbare Pfade eröffnen, aber auch weiterhin und vielleicht gar dauerhaft verschlossene Felder kennzeichnen. Einleitung

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