Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

61 AUS DEM LEBEN VON CHARLOTTE LEIBRANDT – „noch immer heulen“: Obwohl die Stimmung unter den Flücht- lingen überaus bedrückt ist, singen zwei junge Mädchen laut- hals „Eine Seefahrt, die ist lustig, eine Seefahrt, die ist schön!“. Daraufhin steht ein Mann auf und sagt zu den Mädchen: „Ich habe heute Morgen durch den Bombenangriff meine Frau ver- loren und habe sieben Kinder. So etwas singt man nicht hier auf dem Schiff.“ Daraufhin habe er dann das Lied „Eine feste Burg ist unser Gott“ angestimmt und die gesamte Kutterbe- satzung habe eingestimmt. Nach einer dramatischen Nacht auf einem der Kähne wird auch Familie Tomaschewski mit Seilen auf eines der Schiffe, die „Kronenfels“ gezogen. In drangvoller Enge müssen die Flüchtlinge bis zum Abend des 16. April ausharren, bis die Flucht im Schutz der Dunkelheit fortgesetzt werden kann. Gegen 19 Uhr läuft der unter anderem aus der „Kronenfels“ und der mit Als die Kronenfels am 18. April 1945 im Hafen von Kopenhagen einläuft, ist der Empfang nicht eben freundlich. „Macht, dass ihr dahin kommt, wo ihr hergekommen seid“, seien sie von den anwesenden Verwaltungsbeamten begrüßt worden, erinnert sich Charlotte Leibrandt. Zwei Tage später dürfen die Flücht- linge dann doch das Festland betreten und werden zunächst auf erste provisorische Auffangstationen verteilt. Charlotte wird mit ihrer Familie und rund 500 weiteren Flüchtlingen bis zum 20. Dezember 1945 in einer Schule untergebracht. Nach der Auflösung des Auffanglagers werden die Tomaschewskis in das große Flüchtlingslager Oksbøl verlergt. Der persönliche Besitz besteht zu diesem Zeitpunkt nur noch aus den Kleidern, die man am Leibe trägt – und dem klei- nen Hund, den Charlottes jüngere Schwester nicht in Danzig zurücklassen wollte, ihn daher durch sämtliche Unbill mitge- nommen, unter dem Arm versteckt mit auf das Schiff ge- schmuggelt und so nach Dänemark transportiert hat. In Ko- penhagen, so erzählt Charlotte Leibrandt, habe man dann mit dem Hund Probleme bekommen, weil sich das Tier naturgemäß nicht an Vorschriften gehalten und daher häufiger aus dem La- ger ausgerissen sei. „Und eines Tages kommt er zurück und hat ein großes Schild um den Hals hängen: ‚Tyskes svine!‘ – Deutsches Schwein.“ Unmittelbar nach der Kapitulation der deutschen Truppen in Dänemark erscheint dänisches Militär in der Schule und for- dert die Insassen auf, sich auf dem Schulhof zu versammeln. Daraufhin sei das gesamte Lager nach Lebensmitteln wie etwa Schinken „durchstöbert“ worden, die einige Flüchtlinge – ins- besondere natürlich Bauern – in Besitz gehabt hätten. Diese Nahrungsmittel seien dann in die Gemeinschaftsküche gewan- dert, damit sie allen hätten zugutekommen können. Dennoch bleibt die Versorgungslage mehr als angespannt. „Also, da ha- ben wir echt gehungert, in Kopenhagen.“ Fragen, wie es nach dem verlorenen Krieg weitergehen und ob man die alte Heimat wiedersehen würde, stellt sich die ge- rade vierzehnjährige Charlotte zu diesem Zeitpunkt nicht. Ins- besondere die Älteren hätten natürlich gehofft, zurückkehren zu können, aber sie selbst habe wie wohl die meisten Jüngeren mehr als 7.000 Flüchtlingen überfüllten „Goya“ bestehende Schiffskonvoi Richtung Swinemünde aus. Auf hoher See muss die „Kronenfels“ mit Maschinenschaden stoppen, so dass die „Goya“ an dem ohnehin sehr langsamen Dampfer vorbeizieht. „Und die hat es dann getroffen.“ Die „Goya“ wird Ziel von Torpedos eines sowjetischen U-Bootes und sinkt in kürzester Zeit. Als es dämmert, bietet sich ein grausiges Bild. „Als es Tag wurde, konnte man es sehen: die Leichen, Koffer“, erinnert sich Charlotte Leibrandt noch heute mit Grauen. „Wenn wir nicht stehen geblieben wären, hätte der Torpedo uns getroffen.“ Dieses Ereignis hat sich als schlimmste Erfahrung ihres Lebens in ihre Erinnerung eingebrannt. Nachdem noch einige wenige Überlebende aus dem eiskal- ten Ostseewasser gerettet sind, setzt die „Kronenfels“ ihre Fahrt fort. Ziel ist nun aber Kopenhagen. „Macht, dass ihr dahin kommt, wo ihr hergekommen seid“ – In Dänemark Entlassungsschein aus dem Typhuskrankenhaus in Kopenhagen, September 1945

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