Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
wesen, die durch Kälte und permanenten Hunger geprägt wor- den seien. Die Aufnahme im Ort sei „nicht so besonders“ gewesen. „Das war schon schwierig. Wir waren evangelisch, und Jüchen war ein katholischer Ort. Wir waren immer ein bisschen zu- rückgestoßen.“ Es habe auch „gute“, nette Menschen gegeben. „Aber im Allgemeinen war katholisch für sich und evangelisch für sich.“ Man sei wegen der Konfession als „Blauköppe“ be- schimpft worden. Bereits am frühen Morgen, wenn sie das pro- visorische Lager in der Jüchener Schule verlassen habe, um zur Arbeit zu gehen, sei sie von Kindern und anderen Entge- genkommenden oft in dieser Weise verspottet worden, erzählt Charlotte Leibrandt. Neben der Ablehnung erschwert die Art der Unterbringung das Leben. Bis zum März 1951, also weitere zweieinhalb Jahre müssen Charlotte und ihre Familie mit rund 20 Personen in 64 AUS DEM LEBEN VON CHARLOTTE LEIBRANDT den, reisen Mutter und Kinder endlich nach Deutschland, wo sie zunächst imMunsterlager bei Hannover unterkommen. Dort wird ihnen geraten, ins Rheinland weiterzufahren, weil die Ar- beitsmarktlage dort weitaus besser sei. So gelangt die Familie zunächst in das Durchgangslager in Wipperfürth, wo sie zwei bis drei Wochen bleiben muss. Nach erneuter Registrierung geht es anschließend per Zug nach Grevenbroich, wo die Tomaschweskis dann auf einen LKW umsteigen müssen, der sie am 18. Oktober 1948, Charlottes 17. Geburtstag, nach Jüchen bringt. Hier werden die Ankömm- linge in einer Schule untergebracht. „Da waren wir wieder im Lager drin“, erinnert sie sich an ihr seit 1945 währendes „La- gerleben“. Gut zwei Monate später stößt auch der so lang ver- misste und tot geglaubte Bruder Erich wieder zur Familie. In jedem der beiden Klassenräume in der alten Schule in der Kirchstraße, so erinnert sich Charlotte Leibrandt, seien rund 20 Personen untergebracht gewesen. Der im Obergeschoss wohnende Rektor bemerkt, dass zwei der Tomaschewski-Kin- der ja bereits fast erwachsen sind. Er wendet sich direkt an die Mutter: „Wenn Ihre Kinder Arbeit wollen, gehen Sie heute da und da hin.“ Solche Tipps sind wichtig, denn Charlotte bei- spielsweise ist aufgrund ihres Fluchtschicksals ohne jede Aus- bildung. So wird sie Näherin beim Jüchener Textilunternehmen Busch, wo sie bis zu ihrer Heirat im Jahr 1952 tätig bleibt. Schon in Dänemark hat Charlotte mit Verdacht auf Typhus sechs Wochen im Krankenhaus zubringen müssen. Sie sei zwar geheilt worden, habe aber in Jüchen und später in Korschen- broich noch einige Jahre zu regelmäßigen Nachuntersuchungen das Krankenhaus aufsuchen müssen. Das alles sei Folge der während der Flucht zu ertragenden Lebensbedingungen ge- Nachweis über die Ankunft von Bruder Erich in Jüchen „Wir waren immer ein bisschen zurückgestoßen“ – In Jüchen
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