Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
65 AUS DEM LEBEN VON CHARLOTTE LEIBRANDT dem Jüchener Klassenzimmer leben. Sie selbst entflieht der Enge allein dadurch, dass sie morgens um 6:30 Uhr zur Arbeit geht. Das können die älteren Bewohner und die kleinen Kinder jedoch nicht, so dass in einem Raum tagtäglich sehr unter- schiedliche Interessen zusammenprallen. „Das gab schon manchmal Reibereien.“ Ansonsten muss man sich pragmatisch geben. „Wenn eine Decke vorgehangen wurde, dann waren sie für sich alleine“, schildert Charlotte Leibrandt den Bau impro- visierter „Hütten“ im Klassenraum und die so unternommenen zaghaften Versuche, etwas Privatsphäre zu schaffen. Als jemand gesucht wird, der für die 40 in der Schule unter- gebrachten Flüchtlinge kochen kann, meldet sich Mutter To- maschewski. Sie wird für diese Arbeit ausgewählt und bereitet künftig in der Waschküche das Essen zu. Eines Tages sei Bürgermeister König zu ihrer Mutter gekom- men, erzählt Charlotte Leibrandt, und habe sie gefragt, ob sie eine Wohnung suche. Als diese das natürlich bejaht habe, sei sie zu einemHausbesitzer geschickt worden, bei dem eineWohnung frei geworden sei. Dessen erste Frage gilt der Anzahl und dem Alter der Kinder. Weil die schon vergleichsweise alt und bis auf die jüngste Tochter bereits berufstätig sind, stellt das offenbar kein Hindernis dar. Das türmt sich dann allerdings unüberbrückbar auf, als der Vermieter als nächstes nach der Konfession fragt. „Als wir sagten: ‚Evangelisch‘, da haben die uns schon nicht ge- nommen, da blieben wir weiter im Lager.“ So dauert es bis 1951, bis Familie Tomaschewski die lagermäßige Notunterkunft im über- füllten Jüchener Klassenraum verlassen und in zwei Zimmer in einem Haus umziehen kann. Hier wohnt Charlotte noch ein Jahr. Über ihren älteren Bruder Erich, der bei der Post in Rheydt Be- schäftigung findet, lernt Charlotte Leibrandt ihren späteren Mann kennen. Er stammt ebenfalls aus den ehemaligen deut- schen Ostgebieten, war jedoch bis 1949 in sowjetischer Kriegs- gefangenschaft, von wo ihn sein Weg über Schleswig-Holstein ins Rheinland führt. Zwei Tage, nachdem er seine neue Stelle in Rheydt angetreten hat, lernt er bei einem Fest der Post Char- lotte kennen, die auf Anregung ihres Bruders mitgekommen ist. Als ihr zukünftiger Mann von der Post in Rheydt auf eine Stelle nach Korschenbroich wechselt, folgt Charlotte ihm. Das Paar lässt sich zunächst in Neersbroich, dann in Herrenshoff nieder und beginnt dort 1956 mit dem Bau eines eigenen Hau- ses, das ein Jahr später bezugsfertig ist. Auf ihrer neuen Arbeitsstelle in Korschenbroich sei sie nicht angefeindet worden, erinnert sich Charlotte Leibrandt. Von der neuen Nachbarschaft sei man dagegen mit großen Vorbehalten empfangen worden. „Wir sind ja rundherum von Einheimischen eingezingelt.“ Das habe sich beispielsweise am Karfreitag, dem höchsten kirchlichen Feiertag der Protestanten, gezeigt, an dem die katholische Nachbarschaft demonstrativ in den Gärten gearbeitet habe. „Aber das ist heute nicht mehr so. So nach und nach kam die Nachbarschaftsnähe. Wir verstehen uns jetzt alle gut.“ Sie selbst, so urteilt sie rückblickend, sei auch stück- weise am Niederrhein „angekommen“, wo sie sich heute zu Hause fühlt. „Die Heimat ist in Danzig, aber hier ist unser Zu- hause. Ich fühl mich hier wohl.“ „Wir sind ja rundherum von Einheimischen eingezingelt“ – Vorbehalte Ihre alte Heimat hat Charlotte Leibrandt seit der ersten Reise im Jahr 1978 bereits zwölf Mal besucht. Ihrer Mutter dagegen, die immer davon sprach, dass sie dauerhaft nach Danzig zu- rückkehren wolle, ist ein Besuch nicht mehr vergönnt gewe- sen. Als besonders beglückend erlebt Charlotte Leibrandt die überaus freundliche Aufnahme, die sie und ihre Geschwister bei den zahlreichen Besuchen durch die neuen polnischen Be- sitzer ihres Elternhauses erfahren. Nachdem diese das Haus um- und ausgebaut haben, kann einer ihrer Brüder beim letzten Besuch im Jahr 2008 sogar in seinem alten Schlafzimmer über- nachten. „Mir liefen so die Tränen, als ich das gesehen habe“, erinnert sie sich noch heute tief bewegt. „Jetzt ist alles wieder so, wie es war. Wir kommen mit Tränen da an und fahren mit Tränen wieder weg.“ Aus den ersten aufgeschlossenen Kontakten entsteht im Laufe der Zeit mehr. Als eine Tochter der neuen Besitzer be- ruflich nach Deutschland wechselt, entwickelt sich eine innige familiäre Freundschaft. So wird das frühere Elternhaus der ei- nen und die neue Heimat der anderen zum gemeinsamen Zen- trum freundschaftlicher und völkerverständigender Begegnung. Auch so lässt sich Vergangenheit „bewältigen“. „Wir kommen mit Tränen da an und fahren mit Tränen wieder weg.“ – Reise in die Vergangenheit
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