Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

7 DIE FORSCHUNG Zunächst gilt es Begrifflichkeiten und damit die Frage zu klären, ob denn nun von „Flüchtlingen“ oder „Vertriebenen“ die Rede sein sollte. „Flucht und Vertreibung“, soMathias Beer, seien in der deut- schen Sprache zu einer „Chiffre“ geworden, die „für die gewalt- same, Hunderttausende von Opfern fordernde Verschiebung von mehr als zwölf Millionen Deutschen und damit für den zahlenmä- ßig größten Teil der europäischen Zwangsmigrationen am Ende des Zweiten Weltkriegs“ stehe. Zugleich stellt er klar, dass es sich hierbei keineswegs um ein „punktuelles Ereignis“, sondern um „einen zeitlich weit gestreckten Prozess“ gehandelt habe, der mit den Umsiedlungen „Volksdeutscher“ zu Beginn des ZweitenWelt- kriegs begonnen und dann bis in die 1950er Jahre gedauert habe. Dabei umfasse das zumeist verwendete Begriffspaar „Flucht und Vertreibung“ ein „breites Spektrum an Erscheinungsformen“. 4 Das lässt sich nur schwerlich exakt unter einen Begriff subsu- mieren. Zunächst, so analysiert Andreas Kossert, habe man für die Heimatlosen Bezeichnungen „von größter Beliebigkeit“ verwendet und von Aussiedlern und Vertriebenen, von Flüchtlingen, Ostver- triebenen, Heimatvertriebenen, Ausgewiesenen und Heimatver- wiesenen gesprochen. 5 Seit 1947 habe sich dann allerdings allmäh- lich die Bezeichnung „Vertriebene“ durchgesetzt. Beim Versuch einer genauerenDefinition hebt er hervor, dass es keine gemeinsame Geschichte aller Vertriebenen gebe; „zu verschieden sind deren Schicksale und Erfahrungen“. 6 Kossert entscheidet sich wie viele Forschende vor und nach ihm recht pragmatisch, indem er sich an gesetzlichen Vorgaben orientiert: Weil das „Bundesvertriebenen- gesetz“ (BVFG) von 1953 das Wort „Flüchtling“ für diejenigen reserviert habe, die aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) geflohen seien, verwendet er „der Einfachheit halber“ in seinen Untersuchungen den Begriff „Vertriebene“. 7 Auch die unmittelbar von den damaligen Geschehnissen Betroffenen favorisieren in ihrer Mehrheit diese Bezeichnung. Wenn in der vorliegenden Untersu- chung hingegen „Flüchtlinge“ und „Vertriebene“ synonym ver- wendet werden, hat das mehrere Gründe: Zum einen nutzen auch die befragten Zeitzeugen beide Begriffe. Unter ihnen befinden sich zudem solche, deren erste Station zunächst die SBZ bzw. die DDR war, von wo aus sie dann in den 1950er Jahren in die Bundesrepu- blik wechselten. Für sie würden gemäß der im BVFG gegebenen Definition beide Begriffe zugleich zutreffen. Insgesamt kann das Forschungsfeld „Flucht und Vertreibung“ mittlerweile als recht gut beackert und bestellt gelten. Das war lange Zeit nicht der Fall. Mit demEinsetzen des vielzitierten „Wirt- schaftswunders“ war das Interesse an dem Thema seit spätestens den 1960er Jahren immer stärker in denHintergrund getreten und spielte in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit kaum noch eine Rolle. 8 Weil sich viele der offiziellen Vertreter der verschiede- nen Landsmannschaften aus konservativen, nicht selten aus natio- nalistischen und rückwärtsgewandten Kreisen rekrutierten 9 , ge- rieten Vertriebene bald unter Generalverdacht und galten pauschal als Revanchisten. Das wiederum führte dazu, dass es unter Intel- lektuellen verpönt war, sich mit Flucht und Vertreibung der Deut- schen aktiv und unbefangen auseinanderzusetzen. Erst im Laufe der 1980er Jahre gelang es – gefördert von einer an Zugkraft ge- winnenden „Geschichte von unten“ – schrittweise, die Barrieren beiseitezuschieben und zumindest die Geschichte von der Ankunft der bis zu 14 Millionen Deutschen aus dem Osten unbefangener zu erzählen. Allerdings wurde dabei bis zumEnde der 1980er Jahre zumeist eine durch die westliche Sicht dominierte Erfolgsgeschichte mit einer rundum gelungenen Integration festgeschrieben. „An- passung und Eingliederung waren demnach das Ergebnis der ge- meinsamen Anstrengung von Einheimischen und Vertriebenen. Die enormen Anpassungsschwierigkeiten der ersten Jahre, die dis- kriminierende und rassistische Ausgrenzung der Ortsfremden durch Dorf- und Kleinstadtbewohner wurden nicht erwähnt“, fasst An- dreas Kossert die damalige Situation zusammen und fährt fort: „Man betrachtete das Geschehene vorzugsweise aus dem Blick- winkel der Westdeutschen, während die Perspektive der Vertrie- benen, die auch deren persönliche Vorgeschichte bis zu Flucht, Vertreibung, Ankunft und Eingliederung imWesten umfasst, kaum zur Geltung kam. Die Deutschen der Nachkriegszeit verstanden unter Integration nämlich rein bürokratisch-zweckrationales Han- deln. Es überwog eine ausgeprägt materialistische Vorstellung, während persönliche Betroffenheit, Trauer, Traumatisierung und Schmerz nicht wahrgenommen wurden.“ Nicht zuletzt die deutscheWiedervereinigung ermöglichte eine weniger emotionale Analyse der Lage nach 1945 und einen damit einhergehenden Wandel der Sichtweisen. 10 Der Historiker Hans- Ulrich Wehler vermutete in diesem Zusammenhang, es habe sich in den Jahrzehnten zuvor ein „zeitliches und emotionales Sicher- heitspolster“ aufgebaut, das den Betroffenen wie der deutschen Bevölkerung insgesamt endlich die Möglichkeit gegeben habe, den damaligen Schrecken näher an sich heranzulassen. Die veränderte Sichtweise war ein gutes Stück weit aber auch einem Generatio- nenwechsel geschuldet. Es waren nun nicht mehr die „68er“, die sich auf die – tatsächlichen und vorgeblichen – Schandtaten ihrer Väter fixierten, sondern die Generation der Enkel, die „in einem Land, das in atemraubender Geschwindigkeit vorher ungeahnte Normalisierungsprozesse durchläuft, die zurückliegenden Ereignisse erkennbar nüchterner“ bewertete. Auf eine nochmals andere Ebene transferiert wurde die bundes- deutsche Auseinandersetzung mit dem Komplex „Flucht und Ver- treibung“ dann durch die Serie von Kriegen im ehemaligen Jugo- EINLEITUNG

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