Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
Die Eltern, so erzählt Hannelore Beulen, hätten ihren Kindern frühzeitig erklärt, dass „der Russe jetzt im Osten sein Gebiet“ habe. „Das war uns klar.“ Dass es mit Briten und Amerikanern auch noch andere Alliierte gibt, habe unter der sich zuspitzen- den Lage zur Jahreswende 1944/45 keine Rolle gespielt: „Wir haben uns auf den Russen konzentriert, weil die Eltern davon gesprochen haben: ‚Der Russe kommt in Ostpreußen rein!‘“ Die damit verbundenen Gefahren halten sie allerdings vor ihren Kindern geheim. Die konkreten Fluchtvorbereitungen las- sen sich dann allerdings nicht mehr verbergen. „Ich weiß, dass meine Eltern dann anfingen, verschiedene Sachen zu packen.“ Bettwäsche, Tischdecken und vieles mehr wird zusammenge- schnürt. Hinzu kommen die in Säcken verstauten Federbetten, die mit allen übrigen Dingen auf einen Wagen geladen werden. Mehrere Familien tun es den Bandemers gleich, so dass sich in Groß Boschpol seit Jahresbeginn 1945 eine Art eigenartig anmutendender Aufbruchstimmung breit macht. Die Eltern er- klären den Kindern die ungewöhnliche und daher auch beängs- tigende Betriebsamkeit damit, dass man nicht weiter unmittel- bar an der Durchmarschstraße wohnen möchte, wenn die Rote Armee tatsächlich einmarschieren würde. Auch Elvira, Hannelore und der kleine Jürgen dürfen ihnen wichtige Dinge zusammenpacken und zur Mitnahme vorberei- ten. Hannelore ist dabei ihr Schmuck besonders wichtig, besitzt sie doch eine Kette und einen Ring. „Das war natürlich sehr wichtig, dass man das hatte.“ Und natürlich müssen auch die aus Paris mitgebrachten Puppen mit auf den Fluchtwagen. „Da haben unsere Eltern schon für gesorgt, dass wir unsere Lieb- lingssachen hatten.“ 70 AUS DEM LEBEN VON HANNELORE BEULEN „Das waren die ersten Soldaten, die wir gesehen haben.“ – Krieg „Der Russe kommt in Ostpreußen rein!‘“ – Fluchtvorbereitungen Zunächst wird Familie Bandemer nicht sehr stark von den Kriegsereignissen tangiert, was nicht zuletzt daher rührt, dass Vater Erich aufgrund eines beidseitigen Leistenbruchs nicht zur Wehrmacht eingezogen wird und die meiste Zeit in Groß Boschpol verbleiben kann. Einige Male werden seine Kennt- nisse aber offenbar an anderen Stellen benötigt. „Der stand immer ‚Gewehr bei Fuß‘, und wenn irgendetwas war, wurde er dahin geschickt.“ Er sei, so erinnert sich Hannelore Beulen, beispielsweise einmal nach Frankreich gerufen worden, um sich dort um Bahnangelegenheiten zu kümmern. Über die ge- naue Tätigkeit des Vaters sind die beiden Töchter nicht orien- tiert. Viel wichtiger für sie ist es, dass ihr Vater ihnen aus Paris zwei große Puppen mitbringt. Spätestens ab 1944 hält der Krieg aber schrittweise auch in Langeböse und Groß Boschpol Einzug. Es seien immer mal wieder Wehrmachtsangehörige erschienen, die dann für einige Zeit untergebracht und bewirtet worden seien, erinnert sich Hannelore Beulen. „Das waren die ersten Soldaten, die wir ge- sehen haben.“ Dann aber ändert sich die zuvor so ruhige Lage in den hin- terpommerschen Dörfern grundlegend. „Plötzlich kamen ver- schiedene Züge aus Ostpreußen“, erzählt sie weiter. Deren In- sassen seien bereits auf der Flucht gewesen und hätten einen Zwischenstopp eingelegt. Bei dieser Gelegenheit muss die kleine Hannelore erstmals erleben, welche Folgen soziale Un- terschiede auf das Verhalten von Menschen haben können. Eine ostpreußische Gutsbesitzerfamilie findet für zwei Nächte Unterschlupf bei den Bandemers und nötigt diese, in der kleinen Dienstwohnung sehr eng zusammenzurücken. Dennoch habe man die Durchreisenden „sehr freundlich“ aufgenommen: „Meine Eltern haben natürlich auf dem Boden geschlafen“ und den Flüchtlingen ihr Ehebett überlassen. Das sei aber keines- wegs mit Dankbarkeit, sondern mit Unverschämtheit erwidert worden, wie sich Hannelore Beulen noch heute verärgert erin- nert. „Die haben uns praktisch aus der Wohnung getrieben.“ Dabei sind die ehemaligen Gutsbesitzer gut ausgestattet. Sie reisen nicht nur mit Bediensteten, sondern haben auch - gerade gegen Kriegsende – sehr seltenen und entsprechend begehr- ten Bohnenkaffee im Gepäck. Daher wird auch die Bande- mer’sche Küche zur Zubereitung des Kaffees kurzerhand ok- kupiert. „Die ganze Küche duftete. Meine Eltern durften da mal riechen, aber sie bekamen keine Tasse Kaffee angeboten. Und das hat meine Mutter schwer verkraftet und gesagt: ‚Man muss doch ein bisschen dankbarer sein.‘“ Es bleibt nichts als der Ärger, als sich die Gutsbesitzerfamilie nach zwei Tagen wieder auf den Weg gen Westen macht.
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