Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
71 AUS DEM LEBEN VON HANNELORE BEULEN „Da kommen die Russen! Da sind die Panzer!“ – Besetzung „Der arme Jürgen, der hat heute Geburtstag und kriegt auch keine Geschenke.“ – Flucht Auf Nachfrage der Kinder erklären Ernst und Erna Bandemer ihnen die Notwendigkeit zur Flucht. Man habe Angst, „dass der Russe reinkommt“, habe es immer wieder geheißen. Das hört sich in ihren Ohren aber stets sehr allgemein und weit entfernt an, so dass die zwölfjährige Elvira und die zehnjährige Hanne- lore zunächst nicht realisieren, dass auch sie unmittelbar von der Invasion betroffen sein werden. „Da dachten wir aber noch nicht an unsere Flucht“, fasst Hannelore Beulen ihre damalige kindliche Sichtweise zusammen. Es habe dann jedoch nur noch wenige Wochen gedauert, „bis es auf uns zukam“. „1945, am 13. März, sind wir geflüchtet.“ Dieser Tag und seine Ereignisse stehen der heute 83-Jährigen noch immer in aller erschreckenden Deutlichkeit vor Augen. Die Bandemers verlassen mit weiteren Bewohnern Groß Boschpol und ziehen in die das Dorf umgebenden Hügel, wo zwei leere Zollhäuser stehen. Hier lassen sie sich nieder, um – wie man hofft – in si- cherem Abstand den Durchmarsch der Roten Armee abzuwar- ten und anschließend zurückzukehren. An das genaue Datum der Flucht kann sich Hannelore Beulen aus gutemGrund genau erinnern: „Am 13. März 1945 wurde mein Bruder vier Jahre alt.“ Normalerweise werden in der Familie die Kindergeburtstage immer „groß“ gefeiert. Das sieht nun allerdings völlig anders aus. Noch heute dominiert der von Pferden gezo- gene Wagen die Erinnerungen an diesen Tag: „Mein Bruder sitzt da drauf und hat Geburtstag! Da habe ich gedacht: ‚Der arme Jürgen, der hat heute Geburtstag und kriegt auch keine Ge- schenke.“ Daher könne sie das Datum der Flucht nie vergessen. An die weiteren Ereignisse hat Hannelore Beulen nur noch vage Erinnerungen. So kann sie sich – durch die damaligen Er- lebnissen sicherlich auch ein Stück weit traumatisiert – auch nicht rückbesinnen, wie lange sich die Gruppe aus Groß Bosch- pol in den beiden Zollhäusern aufgehalten hat. Mal meint sie, es seinen vielleicht zwei bis rund drei Wochen gewesen, mal spricht sie nur von wenigen Tagen. Kein Wunder, dass das kind- liche Erinnerungsvermögen angesichts der angespannten Stim- mung in der Fluchtgruppe und den existentiell bedrohlichen Ereignisse alles andere als präzise ist. Es kann gut sein, dass sich der kleinen Hannelore drei endlos erscheinende Tage des angespannten Wartens und voll von schrecklichen Erlebnissen damals als drei „gefühlte“ Wochen ins Gedächtnis einbrann- ten. An die Zahl der in den beiden Häusern Untergekommenen kann sie sich hingegen gut erinnern und schätzt sie auf rund 20 Personen. Man habe sich nicht richtig eingerichtet, sondern nur das Allernötigste – beispielsweise das Bettzeug – ausge- packt. So schläft man spartanisch und „wie Heringe“ auf Stroh- säcken, die auf dem nackten Boden liegen. „Es war schon so, dass wir wussten, dass das nicht für ewig war.“ Eines Tages, an diese Szene erinnert sich Hannelore Beulen genau, habe sie mit Spielkameraden wieder einmal „die Berge“ erklommen. Beim Blick ins Groß-Boschpoler Tal sehen die Kinder russische Panzer anrollen. Der lange gefürchtete Augenblick ist gekom- men! Die Kinder laufen zur provisorischen Unterkunft und warnen die Eltern: „Da kommen die Russen! Da sind die Panzer!“, die kurz darauf an den Zollhäusern eintreffen. Die Soldaten sprin- gen ab und dringen in die beiden Gebäude ein. Zeitgleich, so Hannelore Beulen, habe man in den umliegenden Wäldern zahl- reiche Schießereien gehört. „Die haben deutsche Soldaten er- schossen.“ Deren Leichen werden – zum großen Schrecken der Kinder - später entdeckt. In den Häusern entfernen die Soldaten zunächst sämtliche Schlüssel aus den Türen. „Wir durften nicht abschließen. Und dann ging das die ganze Nacht rein und raus, und die holten sich die Frauen. Und wir Kinder wussten natürlich nicht, was los war.“ Erna Bandemer macht sich die Kinderliebe vieler Soldaten zu- nutze: „Die Russen, die mochten Kinder, und wenn Kinder weinten, dann gingen die manchmal weiter. Meine Mutter hat immer ge- guckt, dass meine Schwester unter ihrem Rock war, weil die ja schon zwei Jahre älter war, und mein Bruder und ich saßen bei ihr und bei meinem Vater auf dem Schoß.“ Das Verhalten der sonst so besorgten Mutter dürfte die Kinder irritiert haben, zeigt aber die erhoffte Wirkung. „Wir wurden von ihr gekniffen, damit wir weinen sollten.“ Tatsächlich bleibe Erna Bandemer während der Tage und Nächte in den Zollhäusern unbelästigt. Nachdem die Einheiten Roten Armee endlich weitergezogen sind, werden die Fluchtwagen erneut bepackt, und die Groß Boschpoler kehren in den Ort zurück. Der eigentlich recht kurze Rückweg zieht sich – zumindest in der Erinnerung der damals stark verängstigten Hannelore – unendlich lang hin und ist mit weiteren traumatisierenden Handlungen der Soldaten verbun- den. „Und dann kamen immer wieder Russen vorbei und ver- suchten, uns zu erschießen.“
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