Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

72 AUS DEM LEBEN VON HANNELORE BEULEN „Wir haben gehungert und fürs Überleben noch immer etwas gehabt.“ – Zurück im Dorf Was dann geschieht, übertrifft in seinem Schrecken die bis- herigen schlimmen Erlebnisse der Zehnjährigen nochmals bei Weitem. Auf dem Rückweg ins Dorf kommt die Gruppe an ei- nem freistehenden und verlassenen Haus vorbei. In diesem Augenblick nähert sich ein betrunkener russischer Soldat auf einem Pferd. „Der hat uns dann in dieses Haus getrieben.“ Das Innere des Gebäudes wirkt auf Hannelore ohnehin schon ge- spenstisch. Ein Raum sei mit großen Spiegeln ausgestattet ge- wesen und auf kleinen Schränkchen hätten lange Scheren ge- legen – vielleicht handelte es sich um einen Friseur-Salon. „Jetzt kommt der Russe und sagt: ‚Die Männer in einen Raum, die Kinder in einen Raum und auch die Frauen. Wir würden alle er- schossen werden.“ Verständlich machen kann sich der Betrun- kene dadurch, dass sich unter den Rückkehrern eine Frau be- findet, die Russisch spricht und daher übersetzen kann. „Und dann kam der mit der Pistole und ging von einem zum anderen. Und das vergisst man auch nicht. Und dann ging das große Beten los; jeder auf seine Art.“ „Kurz bevor wir in den Ort zurückkamen, wurde mein Vater di- rekt verschleppt in Gefangenschaft“, erinnert sich Hannelore Beulen an diese besonders schmerzhafte Trennung mit unge- wisser Perspektive zurück. Erich Bandemer wird für mehrere Monate in Graudenz interniert, bis er völlig abgemagert, aber immerhin noch lebend zur Familie nach Groß Boschpol zurück- kehren kann. Bis dahin weiß seine Familie nichts über das Schicksal des Ehemanns und Vaters. Als Erna Bandemer mit ihren drei Kindern ins Dorf zurück- kehrt, wird das Bahnhaus längst als Lazarett genutzt. Die vier Obdachlosen kommen mit einigen weiteren Rückkehrern in ei- nem Raum der verlassenen Dorfschmiede unter, wo sie wie- derum auf Strohsäcken schlafen müssen. „Und da kamen die Russen auch andauernd rein und raus, rein und raus.“ Zu allem Unglück erkrankt der vierjährige Jürgen schwer. Erna Bandemer organisiert im Ort einen alten Kinderwagen und macht sich mit ihrem hochfiebrigen Sohn „im Kugelhagel“ zu Fuß auf den lan- gen und gefährlichen Weg ins Krankenhaus nach Lauenburg. Dort diagnostiziert man einen Blinddarmdurchbruch, operiert den kleinen Jürgen und schickt ihn samt Mutter nach einigen Tagen wieder zu Fuß nach Groß Boschpol zurück. Die zurückgekehrte Dorfbevölkerung muss unter nun völlig gewandelten Bedingungen ihren Lebensunterhalt sichern. Viele gehen auf das nahegelegene Gut, auf dem die russischen Be- satzer untergekommen sind, und fragen nachArbeit, um mit Putzen, Wäschewaschen und Feldarbeit ihr Dasein zu fristen. Für die vier Bandemers übernimmt die zwölfjährige Elvira eine wichtige, vielleicht lebenserhaltende Rolle: Sie geht zum Gut, wenn dort Kühe geschlachtet werden und schneidet den von den Besatzern achtlos weggeworfenen Kuhköpfen die Zungen heraus, die anschließend von ihrer Mutter gekocht werden. Erna und Elvira Bandemer gehen im Herbst außerdem auf die umliegenden Felder, um dort liegen gebliebene Kartoffeln zu sammeln. Ab und zu, so erzählt Hannelore Beulen, habe es für Hilfsarbeiten auf dem Gut auch ein Stück Brot gegeben. Zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig: „Wir haben gehungert und fürs Überleben noch immer etwas gehabt.“ Die Todesangst findet durch die Ankunft weiterer Rotarmis- ten glücklicherweise ihr abruptes Ende. „Da geht die Türe auf, und es kommen drei Offiziere herein. Die packen sich diesen besoffenen Russen und schmeißen ihn raus. Und das war un- sere Rettung“, ist sich Hannelore Beulen noch heute sicher. Der Schrecken ist aber längst nicht ausgestanden. Nun stellen sich die drei Offiziere mit den großen Scheren in den Händen auf, klappen diese auf und zu und betrachten die verängstigte Gruppe. „Da hörte ich – auch das vergisst man nicht –, wie einer von den Erwachsenen sagte: ‚Die schneiden uns jetzt je- des Glied einzeln ab.‘ Stellen Sie sich das mal vor, wenn Sie das als Zehnjährige hören.“ Das Befürchtete wird zwar nicht zur Realität, aber was folgt, ist schlimm genug: „Was sie getan haben? Sie haben die Frauen vergewaltigt und haben uns dann nach einer Zeit wieder gehen lassen.“ Das gilt auch für die Männer, die zwar in einem eigenen Raum eingesperrt sind, denen man sonst aber nichts antut.

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