Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
73 AUS DEM LEBEN VON HANNELORE BEULEN „Meine Mutter hat mich nur versteckt.“ – Ein besonderer „Freund“ Hannelore Beulen erzählt eine sehr spezielle Geschichte, die sie bis heute verschwiegen, damals aber sowohl sie selbst als auch ihre Mutter in tiefste Angst versetzt hat. „Da lacht manch einer vielleicht drüber. Das glaubt mir gar keiner“, bringt sie auch heute noch ihre Verunsicherung zum Ausdruck. In der Unterkunft der Bandemers erscheint regelmäßig ein russischer Offizier, der von der zehnjährigen Hannelore offen- sichtlich sehr angetan ist. Zuvor hat er in anderen Familien Kindern Kleidungsstücke und Spielzeug abgenommen, um sie anschließend Hannelore zu schenken. „Der mochte mich.“ Auch die Familie profitiert von der eigenartigen Verbundenheit, denn der Besucher bringt häufig etwas zu Essen mit. „Das war für uns sehr wichtig.“ Die Vernarrtheit des Soldaten nimmt jedoch bedenkliche Ausmaße an, und Erna Bandemer versucht, ihre Tochter vor ihm zu verstecken. Immer wenn er gekommen sei, so Hannelore Beulen, sei sie schnell ins Bett geschickt und damit dem Zugriff entzogen worden. Weil der Russe aber stark um sie besorgt gewesen sei, habe er es nie gewagt, ihren angeblichen Schlaf zu unterbrechen, sondern habe die Wohnung tatsächlich um- gehend wieder verlassen. Eines Tages äußert er gegenüber einer Russisch sprechen- den Bewohnerin seine tiefergehenden Absichten: Er müsse nun zunächst noch nach Berlin, wo die letzten Kämpfe des Weltkrieges stattfinden würden. Nach dessen Ende und seiner Rückkehr aber, so kündigt er an, werde er Hannelore mit nach Russland nehmen und von seiner Mutter erziehen lassen, um sie anschließend zu heiraten. „Das hat der im Ernst gesagt, und meine Mutter hat mich nur noch versteckt.“ Mit bangem Herzen warten die Bandemers nach der deutschen Kapitulation auf die Rückkehr des eigenartigen Verehrers, der sie – darin ist sich Hannelore Beulen auch heute noch sicher – wohl tat- sächlich mitgenommen hätte, „denn er hätte dazu ja die Macht gehabt“. Aber: „Alle kamen zurück, nur er nicht. Und das war wahrscheinlich meine Rettung.“ „Und dann kam der Pole rein.“ – Leben nach Kriegsende Die sowjetische Besatzung zieht nach der deutschen Kapitu- lation relativ schnell aus Groß Boschpol ab. „Und dann kam der Pole rein.“ Kurz darauf kehrt auch der abgemagerte Erich Ban- demer aus Graudenz zurück, so dass die Familie wieder voll- zählig ist. Hannelore kann ihrem Vater ein besonderes Ge- schenk machen. Weil sie weiß, dass er Raucher ist, hat sie in den Wochen zuvor die Zigarettenstummel gesammelt, die die russischen Soldaten achtlos fortgeworfen haben. Den Tabak füllt sie in ein Tütchen, das sie als gelungene Überraschung zu dessen glücklicher Rückkehr ihrem Vater überreicht. „Das sind so Dinge, die einem wieder einfallen.“ Erich Bandemer sondiert die Lage im Dorf und auf dem Gut, wobei er ein kleines leerstehendes Haus entdeckt. Auf Nach- frage bei den neuen polnischen Besitzern wird ihm gestattet, das Häuschen herzurichten und mit seiner Familie zu beziehen. Damit endet die Zeit der unfreiwilligen Wohngemeinschaft in der Dorfschmiede. Außerdem arbeitet er mit Tochter Elvira ge- gen Naturalien „für den Polen“ auf den Feldern. Das Verhältnis zur polnischen Bevölkerung, so urteilt Han- nelore Beulen rückblickend, sei trotz aller Spannungen besser gewesen als jenes zur russischen Besatzungsmacht. „Die ha- ben uns natürlich auch schlecht behandelt, aber da gab es auch Hilfe.“ So sei ihr Vater im Sommer in den Wald gegangen und habe dort die verschiedensten Beeren gepflückt. Die habe dann eine polnische Frau abgeholt und auf dem Markt verkauft, wofür sie ihrerseits Familie Bandemer mit Naturalien entlohnt habe. Erna Bandemer überlässt der Frau zudem Tischdecken, die sie über die Zeit der Besetzung gerettet hat, um so die Versorgung der Familie aufzubessern. Als besonders nachteilig empfindet Hannelore Beulen es rückblickend, dass ihr ebenso wie allen anderen deutschen Kinder rund anderthalb Jahre keinerlei Schulunterricht erteilt wird. „Von Schule wurde bei den Deutschen nicht gesprochen.“ Sie kann sich aber nicht mehr genau darauf entsinnen, wie sie die lange beschäftigungslose Zeit ausgefüllt hat. Wahrschein- lich, so mutmaßt sie, sei sie mit Vater und Schwester häufiger zum Gut gegangen und habe dort geholfen.
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