Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
76 AUS DEM LEBEN VON HANNELORE BEULEN warme Decken oder Schuhe. Und was soll ich Ihnen sagen, wir haben nie was gekriegt. Wenn meine Mutter dann zu meinem Vater sagte: ‚Hast Du nicht einmal eine Decke mitgebracht?‘, sagte der: ‚Nein. Da kam so ein armes Mütterchen, die ist ärmer dran als wir.‘“ Ihr Vater habe alles verteilt und weggegeben, ohne die eigene Familie zu berücksichtigen. „Da hat meine Mut- ter gesagt: ‚Kannst Du nicht austreten aus diesem Ver- ein? Ich möchte auch mal was kriegen.‘“ Wichtiger ist es aber, dass die Bandemers endlich den Klassenraum verlassen und eigene Räume in der Garzweiler Mausgasse beziehen können, die die Be- zeichnung „Wohnung“ jedoch nur sehr eingeschränkt verdienen. Es handelt sich um eine Art Stall, in der zu- vor bereits eine Flüchtlingsfamilie gewohnt hat - Familie Müller, die uns in Person von Elisabeth Schütte hier ebenfalls ausführlich begegnet. Als die eine bessere Unterkunft findet und umzieht, sieht Erich Bandemer die Gelegenheit gekommen. „Dann hat mein Vater das erfahren, und dann sind wir in diesen Stall gezogen.“ Der Boden besteht aus Ziegelsteinen, Türen sucht man vergebens – „aber es waren drei Räume und wir waren für uns“. Die Räume sind das eine, deren Einrichtung hinge- gen etwas völlig anderes. „Wir kamen da rein und hat- ten nichts“, erzählt Hannelore Beulen. „Wir mussten uns auf Ziegelsteine setzen.“ Auch hier helfen wieder Menschen, von denen man es wohl am wenigsten er- wartet hätte: „Das waren arme Leute, die damals un- sere Nachbarn waren, die Ärmsten der Armen. Da brachte einer einen Stuhl, der andere einen Tisch. Dann kam mal jemand mit einem Eisenbett-Gestell. So ka- men diese Sachen zusammen.“ Aber wie fast immer, hat auch hier die Medaille zwei Seiten: „Es wohnten auch Leute da, die alles hatten, von denen sie aber kein bisschen was kriegten. Kein Stück Brot, nichts.“ Mit dem Gewinn von Privatsphäre, so Hannelore Beulen, habe die Normalität langsam wieder Einzug in das Familienleben halten können, wenn das Niveau der Lebensbedingungen in den „Hungerjahren“ zunächst auch auf bedenklich niedrigem Stand bleibt. „Ich weiß noch, dass meine Mutter mit Wasser Kartoffeln gebra- ten hat.“ Überall in der Umgebung habe es nach Öl und Fett gerochen, was die stets hungrige und unter- ernährte Hannelore besonders dann zutiefst betrübt, wenn die einheimischen Freundinnen zum Reibeku- chen-Essen ins Haus gerufen werden. „Und dann sagte meine Mutter: ‚Und ich habe Bratkartoffeln ge- macht. Und wenn sie auch bloß mit Wasser gemacht sind, sie schmecken.“ Hannelore Bandemer (rechts) und Cousine Ingetraud Kusch in Garzweiler, um 1949
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