Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
77 AUS DEM LEBEN VON HANNELORE BEULEN Den Kindern fällt die Integration in die neue Umgebung leichter als den Erwachsenen. „Wir Kinder hatten schnell Kontakt.“ Hierzu trägt der Schulbesuch maßgeblich bei, wobei die zwölf- jährige Hannelore hier viel nachzuholen hat. „Was mich immer besonders belastet hat: Ich hatte anderthalb Jahre keine Schule in Pommern. Und als ich in Garzweiler in die Schule kam, hat man mich gefragt: ‚Aus welcher Klasse bist Du rausgekom- men?‘“ Und in die gleiche Stufe sei sie in Garzweiler wieder eingeschult worden, wofür sie viel zu alt gewesen sei. „Und da hatte ich die anderthalb Jahre Differenz.“ Dieses Problem löst Hannelore nach dem 1948 erfolgten Umzug der Familie nach Jüchen in erstaunlich selbstständiger, selbstbewusster und leistungsorientierter Art und Weise. Als sie im 7. Schuljahr ist, fährt sie auf eigene Faust ins benachbarte Rheydt und legt dort erfolgreich die Aufnahmeprüfung für die kaufmännische Handelsschule ab. Damit, so erzählt sie noch heute sichtlich stolz, habe sie das verlorene Schuljahr „wieder herausgeholt“. An besondere Kontakte der Flüchtlingskinder im schulischen Bereich kann sie sich nicht erinnern. Die seien ja aus völlig ver- schiedenen Gegenden gekommen. So entwickeln sich keine Freundschaften zu anderen Flüchtlingskindern, sondern Kon- takte zu Einheimischen: „Ich hatte gleich meine Freundinnen hier“, erzählt Hannelore Beulen, und die seien auch wie selbst- verständlich „zu uns in den Stall“ gekommen. Diese freund- schaftlichen Beziehungen seien „richtig schön“ gewesen. Schwierigkeiten im Zusammenleben entwickeln sich aller- dings auf anderem Gebiet. „Das Problem, das dann kam, das war der Glaube“, was die evangelischen Neuankömmlinge im „urkatholischen“ Garzweiler deutlich zu spüren bekommen hät- ten. „Da stehen die Blauköpp schon wieder“ habe es dann ge- heißen. Über diese abwertende Bezeichnung evangelischer Christen ärgert sich Hannelore maßlos und leidet darunter – bis heute. Obwohl der Begriff längst seine diskriminierende Bedeutung verloren hat, kann sie es noch immer nicht verwin- den, wenn er auf sie und Mitgläubige angewandt wird; die alten Verletzungen sitzen offenbar zu tief. „Das ist das Wort, unter dem ich als Kind gelitten habe!“ Viele der katholischen Einheimischen provozieren die An- dersgläubigen bei jeder sich bietenden Gelegenheit. So wird der Karfreitag – für Protestanten einer der wichtigsten Feier- tage – gern genutzt, um im Garten zu arbeiten, Autos zu wa- schen oder ähnliche Tätigkeiten verrichten. Ihre Mutter, so Han- nelore Beulen, habe sich darüber zwar stets sehr geärgert, aber auch deutlich gemacht: „Das tun wir aber nicht, wenn Fronleichnam ist.“ Eine Hilfe und Stütze für die insgesamt vier protestantischen Familien in Garzweiler ist in solchen Situatio- nen die evangelische Kirche im zwei Kilometer entfernten Ot- zenrath, die Familie Bandemer regelmäßig besucht. „Das Problem, das dann kam, das war der Glaube.“ – Schule und Religion Hannelore Bandemer am Tag ihrer Konfirmation, 1950 Die Geschwister Bandemer um 1950. V.l.n.r.: Elvira, Gerd, Jürgen und Hannelore
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