Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
8 Zugleich muss aber darauf geachtet werden, dass dieser Prozess kei- neswegs die unheilvolle „Reihe neuer deutscher Leidensgeschich- ten“ 14 fortsetzen darf, wie das etwa Jörg Friedrich mit seiner auf das Schüren von Emotionen setzenden, in weiten Teilen aber sehr frag- würdigen Darstellung des Bombenkrieges von 1940 bis 1945 und dessen Auswirkungen auf die deutsche Zivilbevölkerung versucht hat. 15 Auch das würde zu einer völlig unnötigen Diskreditierung desThemas führen. „Als gebe es nur die Alternative zwischen einem reuigenDeutschen, der die Vertreibung als Strafe für die Verbrechen des Hitler-Regimes akzeptiert, und einem Ewiggestrigen, der das Leiden der Nachkriegszeit vor sich her trägt, um über die Schuld der Kriegszeit nicht zu reden“, hat Helga Hirsch diese so proble- matische wie unnötige Konstellation auf den Punkt gebracht. 16 Um Missverständnisse zu vermeiden, müssen von Beginn an aber auch stets beide Seiten gebührende Berücksichtigung finden. So weist Dagmar Kift sehr zu Recht auf die Gefahr hin, dass eine Trennung von Flüchtlingen und Einheimischen in der Forschung die Gefahr in sich berge, etwaige Gemeinsamkeiten zwischen bei- den Gruppen in den Nachkriegsjahren zu übersehen. Denn alle Menschen und Gruppen hätten sich in der Nachkriegszeit mit ähnlichen Problemen konfrontiert gesehen und hätten sich in einer neuenWelt mit neuen Anforderungen und sozialen Bezügen Ori- entierung suchen müssen. 17 Bei der Beurteilung der verschiedenen Herausforderungen können Zahlen und Statistiken allerdings nur bedingt weiterhelfen, denn beim Zusammentreffen von Vertrie- benen und Einheimischen handelte es sich schließlich um nicht weniger, als „die schlechthin tiefste Zäsur in der modernen Ge- schichte“ vieler Aufnahmeregionen in Deutschland und damit „um einen in seiner Bedeutung für die Gesamtgeschichte der Bun- desrepublik Deutschland kaum zu überschätzenden Vorgang“. 18 Wenn die Frage einer „Integration“ der Ankömmlinge in die „Aufnahmegesellschaft“ gestellt wird, gilt es also stets beide Seiten intensiv in den Blick zu nehmen und zu untersuchen. Was erlebten die Ankommenden? Wie verhielten sie sich, und was erwarteten sie? Ebenso bedeutsam ist aber die Erörterung der jeweiligen Lage „vor Ort“. War es tatsächlich so, wie Andreas Kossert es darstellt, dass nämlich die Vertriebenen aus den deutschenOstgebieten nach ihrer Ankunft imWesten „inmitten einer feindlich gesinnten Um- welt, die ihre Besitzstände zu wahren trachtete“, schon „durch ihre pure Existenz“ gestört hätten? Die nunmehr Heimatlosen seien an den ihnen zugewiesenen Aufenthaltsorten zumeist auf Einhei- mische getroffen, „die glücklich über den Krieg gekommen“ seien und die in denNeuankömmlingen „unerwünschte Fremde“ gesehen hätten. 19 Traf das auch für Jüchen und die ihm heute eingegliederten Orte zu? Um sich einer Beantwortung dieser Frage und der damit imZusammenhang stehenden Aspekte anzunähern, gilt es zunächst Grundlagenarbeit zu leisten. Denn während die allgemeine Ge- schichte von Flucht und Vertreibung mittlerweile als gut erforscht slawien, die zu Beginn der 1990er Jahre geführt wurden und einen sprunghaften Anstieg des Zustroms von Flüchtlingen nach Deutschland auslöste. 11 Spätestens zu diesem Zeitpunkt galt es zu registrieren und zu akzeptieren, das Flucht, Vertreibung und eth- nische Säuberungen keineswegs ein Phänomen der Vergangenheit waren, sondern bedrückende Realität des ausgehenden 20. Jahr- hunderts. Aus dem sich hieraus entwickelnden Konsens, dass jed- wede Vertreibung ein nicht zu rechtfertigendes Unrecht darstelle, entwickelte sich schließlich auch ein differenzierterer Umgang mit der Vertreibung der Deutschen nach 1945. 12 Und dass das Thema „Flucht und Vertreibung“ dann auch im 21. Jahrhundert stets auf der Tagesordnung blieb, ist – wie einleitend erwähnt - nur zu be- drückend und praktisch täglich sichtbar. Unter den hier in aller Kürze skizzierten Bedingungen intensi- vierte sich eine aktive Auseinandersetzung mit diesem Phänomen nicht nur, sondern sie erfuhr bedeutende Modifikationen und Er- gänzungen. Hatten lange jene, noch immer nicht gänzlich ver- stummten Stimmen dominiert, die behaupteten, „dass die Ge- schichte der Vertreibung nur ohne die Betroffenen erzählt werden“ 13 könnte, setzt sich mehr und mehr jene Sicht durch, die den un- mittelbar Betroffenen eine Stimme verleihen wollte. So vertrat etwa Philipp von Bismarck die Meinung, dass man erst dann wir- kungsvoll der Aussöhnung diene, wenn „man sich wechselseitig seine Geschichten erzählt“, wobei sich insbesondere die Enkelge- neration durch einen weitgehend unverstellten Blick auszeichnet, der nicht Unabänderliches infrage stellen, sondern wissen will, wie es tatsächlich gewesen ist. 14 Die Überwindung der lange währenden Sprachlosigkeit ist in dieser Hinsicht von kaum zu überschätzender Bedeutung und des- halb auch ein großes Anliegen der hier vorgelegten Untersuchung – und das aus naheliegendenGründen: Der Preis für eine vorgeblich gelungene Integration in die junge bundesrepublikanische Gesell- schaft war für jene, die ihre alte Heimat verloren hatten, hoch: „Sie verstummten, verdrängten, verleugneten, was ohnehin niemand hören wollte.“ 13 Die Folgen solchen nahezu kollektiven Schweigens waren gravierend und sind es bis heute: Schätzungsweise jeder vierte Bundesbürger hat heute Vertriebene in seiner Familie - Großeltern, Eltern oder Schwiegereltern. „Die Generation der Enkel weiß häufig genug nur, dass der Opa irgendwo aus Ostpreußen stammt oder die Oma aus dem Sudetenland. Doch wie ihr Lebensweg verlief, welche Kraft der Neuanfang gekostet hat, wie viele Demütigungen sie erlitten, wie viel Zorn und wie viele Tränen sie herunterschluck- ten, um ihr Ziel, endlich wieder dazuzugehören, nicht aus den Augen zu verlieren - das haben die Alten nicht erzählt und die Enkel nicht gefragt.“ So blieb dann zumeist weitgehend unbekannt, wie der Verlust von materieller Sicherheit und allen sozialen Bin- dungen verkraftet und verarbeitet wurde. Dass nunmehr hinsichtlich „Flucht und Vertreibung“ endlich offener erinnert, erzählt und diskutiert wird, ist ein großer Gewinn. EINLEITUNG
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