Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
87 AUS DEM LEBEN VON ASTRID KATTHAGEN scher Soldat‘. Da sagt Papa: ‚Nein, ich bin kein Soldat.“ ‚Deut- scher Soldat‘, und schob ihn ein bisschen weiter und holt die Pistole raus und schießt ihn tot“ – vor den Augen der gesamten Familie! „Und mein Vater sagt noch: ‚Mein Gott, mein Gott!‘ Das waren seine letzten Worte.“ Astrid ist geschockt und wohl auch traumatisiert: „Wir hatten so viel Angst. Wir kriegten das gar nicht so richtig registriert.“ Auch das, was unmittelbar auf das dramatische Ereignis folgt, ist wenig geeignet, den Vorfall später auch nur in Ansätzen zu verarbeiten: „Wir mussten ihn liegen lassen, wir mussten wei- terfahren“, schildert sie noch heute gleichermaßen entsetzt und traurig die Situation unmittelbar nach der Ermordung des Vaters. Bei einer Pause in einem kleinen, an mehreren Stellen bren- nenden Dorf verliert die Familie schließlich auch noch ihren Wagen mit der gesamten Ladung. „Da kamen Russen auf uns zu. Der eine stellte sich auf die Deichsel und guckte in den Wa- gen rein. Da sah er meinen Cousin, der war 16.“ Auch der Junge wird verdächtigt, ein versteckter Soldat zu sein, was er natürlich vehement und wahrheitsgemäß bestreitet. Er muss absteigen, wobei der offensichtlich angetrunkene Soldat bereits seine Pis- tole gezogen hat. Vetter Horst reagiert geistesgegenwärtig: Er zieht eine Schachtel Zigaretten aus seiner Hosentasche und gibt sie dem Russen - ein Geschenk, das ihm in diesem Au- genblick das Leben rettet. Das ändert jedoch nichts daran, dass der Fluchtwagen mit der gesamten Habe der Kuschs zu- rück bleiben muss. Aber nicht nur das. Auch eine Tante verschwindet bei diesem Kurzaufenthalt spurlos, und die Familie befürchtet, dass sie, deren zwei Töchter ebenfalls zur Fluchtgruppe gehören, von Rotarmisten mitgenommen worden ist. „Das war alles auf ein- mal!“, zeigt sich Astrid Katthagen auch rückblickend noch scho- ckiert. Ihr fallen noch weitere Details ein: Ihrer 80-jährigen Oma werden die wärmenden Filzstiefel von den Füßen gezogen, so dass sie in eisiger Kälte den Fußweg ohne jeden Schutz fort- setzen muss. Auf einem Gutshof wird Zwischenstation eingelegt und über- nachtet. Hier trifft der Familienverband auf viele weitere Lan- geböser, die sich auf dem Rückweg in ihren Heimatort befinden. Jetzt erst macht sich nach den dramatischen Ereignissen des Tages der Hunger bemerkbar. Mit dem Fluchtwagen sind auch sämtliche Lebensmittel verloren, zumal Astrid auch ihren Schul- ranzen kurz vor dessen Beschlagnahmung auf ihm abgelegt hat. Die Solidarität ist an diesem bedrückenden Ort offenbar nicht übermäßig groß. Als Helene Kusch die Essenden um et- was Nahrung für ihre gebrechliche Mutter und die Kinder bittet, wird das vom Hofbesitzer abschlägig beschieden. „Und ärmere Familien, die keine Bauern waren, die gaben uns dann was“ – eine Erfahrung, die viele Flüchtlinge und Vertriebene im Übrigen auch nach ihrer Ankunft imWesten noch häufig machen sollten. Außerdem sammelt Astrids Großmutter die Krusten von Brot- scheiben in einem Taschentuch. „Und wir Kinder bekamen eine, wenn wir besonders großen Hunger hatten.“ Anschließend zieht die Familie bis zu dem aus zwei Häusern bestehenden Weiler Schneidemühl weiter, wo die sich mit wei- teren Langebösern für rund drei Wochen aufhält. Später wird Astrid Katthagen über diese Zeit notieren: „Auch in diesen Häu- sern waren lauter deutsche Flüchtlinge untergekommen. Und auch hier kamen immer wieder Russen herein, und hielten nach jungen Frauen Ausschau. An einem Tag gerieten zwei Russen in Streit, woraufhin der eine den anderen erschoss. Die Deut- schen fürchteten sich. Käme jetzt ein anderer Russe vorbei, und sähe den toten Kameraden auf dem Boden liegen, so hätte er alle Deutschen umgebracht, im Glauben, die Deutschen hät- ten ihn getötet. Aus diesem Grund vergruben die Deutschen den Russen.“ „Die Russen kamen immer und durchsuchten alle Räume.“ – In Darsow Einer von Astrids Onkeln hat früher als Stellmacher auf einem Hof in dem Langeböse benachbarten 400-Seelen-Dorf Darsow gearbeitet. Dorthin geht er nun und „bettelt“ regelrecht um Le- bensmittel. Weil er viele der dortigen Landwirte kennt, findet er für die Kuschs hier auch eine vorübergehende Unterkunft. Aber natürlich ist auch Darsow besetzt. „Ja, und dann kamen die Russen immer und durchsuchten alle Räume. Und wir saßen da und hatten Angst. Die suchten nach Frauen und nach jungen Mädchen.“ Astrid wird bei solchen Gelegenheiten von ihrer Mut- ter immer in den Arm genommen und – auf Russisch – als „Kind“ tituliert, um so die Gefahr einer Vergewaltigung abzuwenden. „Ich bin beschützt worden. Mir haben sie nichts getan.“ 82 Als sich die Nachricht verbreitet, in Langeböse sei aufgrund der sinnlosen Kampfbereitschaft deutscher Verbände „alles zerschossen“ worden und der Ort kaum noch bewohnbar, ha- ben Helene Kusch und ihre Schwestern Angst, auf eigene Faust Erkundigungen vor Ort anzustellen. Als nach einigen Wochen die längst für Tod gehaltene Tante Hilde überraschend wieder zur Familie stößt, ändert sich die Lage, wobei die Hintergründe von Verschwinden und Rückkehr – zumindest für die Kinder und Jugendlichen – weitgehend im Dunkeln bleiben. Gemein- sam mit dieser Tante macht sich Astrid nämlich Mitte Juli 1945 auf den rund fünf Kilometer langen Weg von Darsow nach Lan- geböse, um zu schauen, „was da los ist“. Die ersten Eindrücke
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