Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
89 AUS DEM LEBEN VON ASTRID KATTHAGEN um sich dort zu nehmen, was ihnen beliebt. „Sie waren die Her- ren.“ Sie selbst arbeitet im Sommer 1947 weiterhin auf den Wiesen und Feldern des Guts. Die Hoffnung allerdings, dass ihr die Heimat erhalten bleiben könne, so schildert sie ihre da- malige (Ein-) Sicht, sei nach der Ausweisung aus Langeböse auf den Nullpunkt gesunken. Denn eine Entscheidung hat der Familienrat längst unwiderruflich gefällt: „Wenn wir Polen ge- worden wären, dann ja. Das haben sie uns auch gesagt. Wenn wir uns hätten einpolen lassen, dann ja. Aber das wollten wir nicht. Wir wollten Deutsche bleiben.“ „Es war schlimm, dass wir unsere Heimat verlassen mussten.“ – Vertreibung „Da wurde drüber gesprochen. ‚Wir gehen weg hier, wir gehen nach Deutschland rüber‘“, fasst Astrid Katthagen die damalige Stimmung in der Familie zusammen. Der endgültige Zeitpunkt der Vertreibung wird jedoch von polnischer Seite bestimmt. Im Herbst 1947 wird allen deutschen Einwohnern von Langeböse mitgeteilt, dass die Vertreibung aus ihrem Dorf und auch aus Pommern nun endgültig bevorsteht. 83 „Es war schlimm, dass wir unsere Heimat verlassen mussten, aber zugleich hofften wir auf ein neues Leben in Ruhe und Sicherheit,“ fasst Astrid Katthagen die damalige zwiespältige Stimmung in Worte. Er- leichtert wird der Familie die bedrückende Situation dadurch, dass sie mit Familie Bandemer, die bereits im August 1946 aus Groß Boschpol nach Garzweiler gekommen ist, über eine An- laufstelle im Westen verfügt. Durch Briefkontakte sind beide Seiten über den jeweiligen Stand der Dinge informiert. Daher ist es für die Bandemers selbstverständlich, die Verwandtschaft in deren Notlage bei sich aufzunehmen. Eines Abends, so erinnert sich Astrid Katthagen an den Akt der Vertreibung, sei der Sohn eines Nachbarn mit der Mitteilung erschienen, dass in der folgenden Nacht die Vertreibung be- vorstünde. Tatsächlich trifft kurz darauf der entsprechende offi- zielle Bescheid ein. Hilfesuchend wendet sich Mutter Helene an den polnischen Bauern, der den Hof der Kuschs übernom- men und zu dem man ein fast freundschaftliches Verhältnis entwickelt hat. Er erklärt sich sofort bereit, die Familie mit ihren wenigen Habseligkeiten auf seinem kleinen Panjewagen zum Bahnhof nach Pottangow (heute: Pot ę gowo) zu bringen. Dort steht ein Zug aus Viehwaggons, in den nun die Vertrie- benen verladen werden. „Da saßen wir dann drin.“ Von Pottan- gow führt der Weg in ein Lager im thüringischen Erfurt. Astrid Katthagen hat nicht viele Erinnerungen an diese Episode, ent- sinnt sich aber genau der Szene der Entlausung: „Wir mussten in einen Raum gehen, in dem geprüft wurde, ob wir keine Läuse hätten. Dazu standen wir bis auf das letzte Kleidungsstück ausgezogen mit vielen anderen Männern, Frauen und Kindern zusammen in diesem Raum und wurden untersucht.“ Danach sei die Familie mit anderen Lagerinsassen auf große Säle ver- teilt worden. „Wir lagen da auf dem Boden, denn wir hatten doch nichts.“ „Wir mussten komplett von neu beginnen.“ – Nach Garzweiler Die Zeit im Erfurter Lager endet nach etwa drei Wochen. Dann trifft der lang erwartete Brief vom Niederrhein ein, der Familie Kusch endlich die Zuzugsgenehmigung nach Garzweiler be- schert. Die nächste Station ist aber zunächst das Grenzdurch- gangslager Friedland, die erste Anlaufstelle für all jene, die in die Westzonen einreisen möchten und hier registriert werden. Nach einigen Tagen geht es für die Kuschs weiter nach Jüchen, wo Astrids Onkel Erich Bandemer am Bahnhof wartet, um die Verwandten in die enge Garzweiler Unterkunft abzuholen. „So- mit endete im Oktober 1947 nach zweieinhalb Jahren endlich unsere Flucht. Ich hatte nicht nur meinen Vater verloren, son- dern meiner Familie blieb rein gar nichts mehr von dem, was sie sich aufgebaut hatte und was sie besessen hatte. Wir muss- ten komplett von neu beginnen“, lautet das Resümee von Astrid Katthagen. Sie kann sich noch gut an die Enge erinnern: Das „Häuschen“ sei schon für die Bandemers allein zu eng gewesen. „Und jetzt kamen wir noch mit fünf Personen. Ich weiß auch nicht mehr, wie wir da alle geschlafen haben.“ Ihr Onkel Erich, so erzählt sie weiter, habe den Neuankömmlingen immer wieder geholfen. Das sei umso wichtiger gewesen, als Mutter Helene in solchen Dingen eher „unbeholfen“ gewesen sei. „Die kannte das ja auch nicht.“ Astrid selbst, mittlerweile 15 Jahre alt, findet eine Anstellung bei einem Garzweiler Bauern. „Meine Mutter war froh, dass ich da etwas zu essen kriegte.“ Außerdem erhält sie Kleidung und täglich einen Liter Milch, was der Familie sehr hilft. Astrid ist zunächst die einzige, die aktiv zum Familienunterhalt beitragen kann. Mutter Helene ist herzkrank und nur sehr eingeschränkt belastbar, die Geschwister sind zu jung und besuchen die Schule, was Astrid selbst nicht mehr vergönnt ist. Weil sie das schulpflichtige Alter bei ihrer Ankunft in Garzweiler bereits überschritten hat, endet ihre Schullaufbahn mit zwölf Jahren und ohne Abschluss im Herbst 1944 in Langeböse.
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