Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

9 gelten kann, gilt es mit Blick auf die neuere Geschichte der heutigen Gemeinde Jüchen festzuhalten, dass sowohl deren Ortsge- schichte(n) im Allgemeinen und erst Recht jene von Aufnahme, Behandlung und Integration der am Niederrhein eintreffenden Vertriebenen praktisch unerforscht sind. 20 Für Hochneukirch liegt immerhin eine kleine Studie aus dem Jahr 1951 vor, die auch einige wichtige Informationen und Fakten zur Ortsgeschichte der Nach- kriegszeit beinhaltet. 21 Wenig zum Thema steuert die Garzweiler Ortsgeschichte von Hans Georg Kirchhoff bei 22 , wie es überhaupt erstaunlich ist, wie unergiebig die wenigen bislang durchgeführten Lokalstudien sind. Das gilt nicht zuletzt für die beiden - 2008 und 2010 erschienenen – aktuellsten Untersuchungen zu Otzenrath und Spenrath bzw. zu Holz. Sie beinhalten mit Blick auf die Ge- schichte der Dörfer im 20. Jahrhundert lediglich Aufzählungen von Fakten und Namen und verzichten weitgehend auf jegliche Analyse. 23 Als besonders erstaunlich fällt ins Auge, dass dasThema „Flucht und Vertreibung“ und damit auch die Geschichte der hier- von Betroffenen in beiden Studien nicht mit einemWort Erwäh- nung finden! Für Jüchen selbst und für Bedburdyck liegen über- haupt keine neueren Untersuchungen vor, so dass hier sämtliche Grundlagen direkt aus den Quellen neu erarbeitet werden müs- sen. DIE QUELLEN Das führt zu der Frage, auf welche Materialien überhaupt zurück- gegriffen werden kann? Das Gemeindearchiv ist zwar wohlsortiert, doch klaffen – wie in vielen vergleichbaren Einrichtungen der Ge- gend – für die unmittelbare Nachkriegszeit doch erhebliche und schmerzhafte Lücken. Um die möglichst systematisch zu schließen, wurde alles gesichtet, was Hoffnung auf Informationsgewinn in sich trug. Das gilt in erster Linie für serielle Quellen wie die Sit- zungsprotokolle der Gemeinde- und Amtsvertretungen. Weil die jedoch in aller Regel als reine Ergebnisprotokolle verfasst wurden, fiel die Ausbeute leider eher gering aus. Die sicherlich oft sehr kon- troversen Diskussionen zwischen den Parteivertretern lassen sich auf dieser Basis ebenso wenig rekonstruieren wie die Arbeit und die Haltung der jeweiligen Verwaltungsspitzen. Unterlagen der zahlreichen Ausschüsse sind nur dünn und aus der unmittelbaren Nachkriegszeit gar nicht überliefert, und auch Spezialakten haben sich ganz offensichtlich nur in wenigen Fällen erhalten. So ließen sich auf der Grundlage von imGemeindearchiv und imKreisarchiv in Zons aufbewahrten Berichten an die Kreisverwaltung und die britische Militärregierung zwar viele Fakten zusammentragen, auf deren Basis sich Umrisse eines Bildes der ersten Nachkriegsjahre in den einzelnen Gemeinde skizzieren lassen, doch bleiben die den amtlichen Quellen zu entnehmenden konkreten Auswirkungen von Niederlage, Besetzung, Versorgungsproblemen und regelrech- ten Hungerperioden oft recht vage und „technisch“. Sehr dürftig war auch die Ausbeute in den übergeordneten Kirchenarchiven. Weder im Bistumsarchiv in Aachen noch in jenem der Diakonie in Düsseldorf konnten mitteilenswerte regionale oder lokale In- formationen zu Tage gefördert werden. Mehr „wahres Leben“ atmen hingegen einige Chroniken der damals sehr zahlreichen Volksschulen im Einzugsgebiet der heuti- gen Gemeinde Jüchen. Je nach Interessen und Schreiblust der Rek- toren lassen sich hier plastische Schilderungen der damaligen Si- tuation finden. Daher wurde diese Quellengattung – sofern überliefert - vollständig und intensiv ausgewertet. Sie beinhaltet immer wieder auch Informationen zur Lage der in den jeweiligen Gemeinden untergekommenen Flüchtlinge und Vertriebenen und insbesondere natürlich zur Situation von deren schulpflichtigen Kindern. Das ist mit Blick auf das hier behandelte Thema insofern von erheblicher Bedeutung, als sich die Lebensumstände der Neuan- kömmlinge in den verfügbaren Quellen ansonsten kaum wider- spiegeln. Diesem Dilemma ist auch durch die Hinzuziehung von Quellen aus den Archiven der katholischen und evangelischen Pfarreien nur sehr unzureichend beizukommen, so dass zu konsta- tieren bleibt, dass gerade mit Blick auf die nach 1945 am Nieder- rhein eintreffenden Flüchtlinge und Vertriebenen die Quellenlage überaus dünn ist. So finden sich in den Jüchener Akten beispiels- weise keine Beschreibungen über die Umstände von deren Unter- bringung, auch keine Unterlagen mit Beschwerden und Informa- tionen über die zahlreichen Konflikte zwischenHausbesitzern und den in aller Regel unwillkommenen Gästen. Auch die Hilfeleis- tungen von Gemeinde und Kirchen sind nur unzureichend doku- mentiert. Vieles blieb in den von allgemeinemMangel und Improvisation gekennzeichneten ersten Nachkriegsjahren ohne schriftlichen Nie- derschlag, war in den kleinen, personell zumeist unterbesetzten Verwaltungen doch aktives Handeln, nicht dessen schriftliche Do- kumentation gefragt. Anderes wird nach Ablauf der Aufbewah- rungsfristen vernichtet worden sein. Und schließlich hatten die damaligen Protagonisten nicht unbedingt einen Blick für das, was den rückblickenden Historiker heute brennend interessiert, denn es geht ihm ja nicht nur um die Lage und Unterbringung von Flüchtlingen und Vertriebenen nach deren Ankunft, sondern er würde gern Erkenntnisse über deren längerfristige Behandlung und die Art und Weise der Integration gewinnen. Doch auch und gerade hinsichtlich solcher Fragestellungen verweigern die verfüg- baren Quellen nahezu jede Auskunft. Ein Grund dafür dürfte auch darin liegen, dass jene, die damals in erster Linie für die Verschriftlichung solcher Prozesse verant- wortlich zeichneten, nämlich die kommunalen Verwaltungen, oft wenig Interesse daran hatten, die oftmals komplizierten, aber schon damals in aller Regel als unangenehm empfundenen Konflikte für die Nachwelt festzuhalten. Gerade nach derWährungsreform ging EINLEITUNG

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