Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

Am Morgen des 8. Mai 1945 überschritt die Rote Armee die Grenze im Erzgebirge und besetze bis zum Abend ganz Nordböhmen. 84 Umgehend begann die neue tschechoslowakische Regierung eines ihrer zentralen Ziele in Angriff zu nehmen: die Vertreibung der deutschen und ungari- schen Bevölkerung und die Wiedererrichtung der Tschechoslowakei in den Grenzen vor demMünchener Abkommen des Jahres 1938. Staats- präsident Edvard Beneš hatte das bereits am 28. April 1945 unmissver- ständlich formuliert: „Unsere erste Aufgabe wird es sein, diesen Staat vom Faschismus und den Nazis zu säubern, von Deutschen und Ungarn, und dies ohne Gnade, mit allen daraus resultierenden Folgen.“ Es wurde unverblümt dazu aufgerufen, sich an den Deutschen zu rächen. Unter solchen Voraussetzungen konnte sich nun lang aufgestauter Hass ent- laden, der den im Sudetenland weilenden Deutschen entgegenschlug. Am 16. Mai ergänzte Beneš: „Unsere Aufgabe muss die definitive Ent- germanisierung unserer Heimat sein, und dies nicht nur auf den Gebieten Kultur und Wirtschaft, sondern auch politisch.“ Folgerichtig war tags zuvor der Befehl zur „militärischen Besetzung des Sudetenlandes“ und zu dessen „Säuberung“ erlassen worden. Ersten Übergriffen folgten nun Enteignung und Entrechtung. Am 21. Juni 1945 wurde per Dekret die sofortige Einziehung des landwirt- schaftlichen deutschen Besitzes angeordnet, während weitere, zwi- schen dem 19. Mai und dem 25. Oktober 1945 erlassene Dekrete die vollständige und entschädigungslose Enteignung aller Deutschen re- gelten. Die Betroffenen schätzten ihre Lage als derart aussichtslos ein, dass tschechische Quellen allein für 1945 unter der deutschen Bevölkerung 5.558 Selbstmorde verzeichnen. Manchmal schieden ganze Familien gemeinsam aus dem Leben. Nach Rückkehr der tschechischen Regierung begann unter oft un- menschlichen Bedingungen eine als „wilde“ Vertreibung bezeichnete und angeblich unkoordinierte „Abschiebung“ (odsun) der deutschen und ungarischen Minderheit. Tatsächlich waren aber bereits diese Ak- tionen „von oben“ gesteuert. Zwischen erst nach 1938 ins Land ge- kommenen Deutschen und schon immer hier wohnenden Sudeten- deutschen wurden dabei keine Unterschiede gemacht. Ende Mai begann die Vertreibung und weitete sich stetig aus. Armeeeinheiten richteten Konzentrationslager für Deutsche ein, wobei überwiegend Lager benutzt wurden, die zuvor von deutscher Seite errichtete worden waren. In Marschkolonnen wurden die Deutschen von dort über die Staatsgrenze nach Sachsen und Österreich, bis Mitte Juni 1945 auch ins polnisch-sowjetisch besetzte Schlesien, getrieben. Bis Mitte Juni 1945 waren etwa 116.000, einen Monat später bereits rund 800.000 Menschen hiervon betroffen, so dass im Rahmen der „wilden“ Vertreibung geschätzt jeder vierte der drei Millionen Sudeten- deutschen auf Anweisung der Regierung unter „Anwendung aller Mittel“ vertrieben wurde. So wurden vollendete Tatsachen geschaffen, bevor die Siegermächte in Potsdam eventuell andere Beschlüsse fassen konnten. Auf der bis zum 2. August 1945 dauernden Konferenz gab es wegen der Umstände der „Abschiebungen“ zahlreiche Proteste seitens der Westalliierten und des Roten Kreuzes, aber auch Beschwerden aus der tschechischen Bevölkerung selbst. Daher sah sich die tschecho- slowakische Regierung am 16. August 1945 zur Versicherung gezwun- gen, dass der „Transfer“ nunmehr „human, anständig, richtig, moralisch“ erfolgen sollte. Tatsächlich wurden die Gewaltaktionen aber erst im September, teilweise erst im Oktober eingestellt. Neue rechtliche Grundlagen zur Vertreibung wurden am 2. August 1945 per Präsidentendekret geschaffen, das Deutschen und Ungarn die tschechische Staatsbürgerschaft entzog. Ein Teil von ihnen wurde wei- terhin in Lagern interniert, andere zur Zwangsarbeit eingesetzt. Nach der Phase der „wilden Vertreibungen“ begannen im Oktober 1945 auf der Grundlage des Potsdamer Protokolls die organisierten Vertreibun- gen, in deren Verlauf die Menschen in Gütertransporten oder zu Fuß über die Grenze abgeschoben wurden. Dabei war ihnen erlaubt, Gepäck von 30 bis 50 Kilogramm und für einige Tage Lebensmittel mitzuführen. An Bargeld konnten 100 bis 300, mancherorts lediglich 50 RM mitge- nommen werden. Dieser Prozess war bis Ende 1947 abgeschlossen. Er betraf allein in den böhmischen Ländern etwa 1,9 Millionen Menschen. Flüchtlingstrecks bestimmten das Bild der Landstraßen im Frühjahr 1945 Sudetenland 95

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