Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

Schlesien Einer der zahllosen sich In Richtung Westen bewegenden Flüchtlingstrecks Am 19. Januar 1945 drangen sowjetische Truppen in Oberschlesien ein und besetzten es bis Ende des Monats. 87 Anschließend überrollte die Rote Armee Niederschlesien und umzingelte Breslau, das im August 1944 zur „Festung“ erklärt worden war und nach dem Willen von Gau- leiter Hanke bis zum „letzten Blutstropfen“ verteidigt werden sollte. Während das westliche Oberschlesien bis zum 15. März 1945 erobert war, erfolgte die Besetzung des südlichen Teils von Niederschlesien und der Grafschaft Glatz erst nach der deutschen Kapitulation vom 8. Mai 1945. Breslau selbst kapitulierte, nachdem die Stadt zu 70 Prozent zerstört worden war, am 6. Mai 1945. Eine Ausreise aus Oberschlesien war nach dem Eindringen der sow- jetischen Truppen nur noch wenige Tage möglich. Weil die Breslauer Zivilbevölkerung erst am 19. Januar und ohne jede organisatorische Vorbereitungen – so standen etwa kaum Transportmittel zur Verfügung – zum Verlassen der Stadt aufgefordert wurde, war das Chaos unaus- weichlich. Man überließ die Evakuierten im kalten Winter einfach ihrem Schicksal. Viele kämpften auf den Bahnhöfen um einen Platz in einem Waggon, während andere sich in langen Trecks bei hartem Frost nach Westen vorkämpften. Hierbei kamen vor allem Kinder und alte Men- schen ums Leben. Die Lage verschärfte sich dadurch, dass mit der Einnahme von Brieg ab dem 6. Februar 1945 die meisten Bahnverbin- dungen unterbrochen waren und nur noch der Weg nach Süden offen blieb. Wie in anderen Regionen im Osten Deutschlands wurde auch die Eva- kuierung Niederschlesiens zu spät befohlen und war zudem schlecht geplant. Es bildeten sich lange Rückstaus an der Oder, nach deren Überquerung sich die Fliehenden dann zumeist Richtung Sachsen, Thüringen und ins Glatzer Becken bewegten. Der nördliche Teil Nie- derschlesiens war bald praktisch entvölkert. Die letzten Evakuierungs- befehle wurden dann am 6. Mai 1945 für das Glatzer Becken erteilt. Hier, wo alles mit Flüchtlingen überfüllt war, reagierte man größtenteils gleichgültig auf die Aufrufe des NS-Regimes. Schätzungen gehen da- von aus, dass bis zur deutschen Kapitulation rund 1,6 der insgesamt 4,7 Millionen Einwohner Schlesien verlassen hatten. Im Frühsommer 1945 lebten hier dann noch etwa 1,5 Millionen Deutsche. Mit einer Vertreibung rechnete zu diesem Zeitpunkt kaum einer von ih- nen, auch wenn Gerüchte über eine Abtretung des östlich der Oder liegenden Territoriums an Polen die Runde machten. Ende Juni/Anfang Juli 1945 begannen dann die „wilden“ Vertreibungen. Obwohl sie ei- gentlich nur Städte betreffen sollten, waren sie auch auf dem Lande zu beobachten. Allerdings wurden die Trecks häufig von den russischen Besatzern angehalten und wieder zurückgeschickt. Am 20. August 1945 wurde deshalb angeordnet, dass erst nach der Übernahme des deutschen Besitzes durch polnische Ansiedler dessen bisherige Ei- gentümer unter starker Bewachung über Oder und Neiße abgeschoben werden sollten – ein Vorhaben, dass sich so kaum realisieren ließ. Ob- gleich viele der „wild“ aus Schlesien Vertriebenen zunächst wieder zu- rückkehren durften bzw. mussten, summierte sich deren Zahl für die erste Welle bis zum Herbst 1945 auf etwa 550.000. Die ersten „legalen“ Vertreibungsaktionen begannen in Oberschlesien dann im Oktober/ November 1945. Am 14. Februar 1946 schlossen die polnische und die britische Regierung ein Abkommen über den „Trans- fer“ in die britische Zone, woraufhin unmittelbar die „ordnungsgemäße“ Vertreibung begann. Die „Repatriierung“ nach Deutschland wurde durch Plakate angekündigt. Binnen einer äußerst knapp bemessenen Zeit (zumeist „20 Minuten“) mussten die Betroffenen ihre Wohnungen räu- men, wobei sie lediglich 20 Kilogramm Handgepäck sowie Schmuck und Wertgegenständen im Wert von 500 RM mitnehmen durften. Bis zum Ende des Jahres 1946 mussten auf diese Weise rund 1,1 Mil- lionen Menschen Niederschlesien, weitere 160.000 Oberschlesien ver- lassen. Im Frühjahr 1947 begann die letzte umfassende Zwangsaus- siedlung. Bis 1950 wurden insgesamt 3,2 Millionen Schlesier vertrieben. 119

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