Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

147 DIE RAHMENBEDINGUNGEN: OST TRIFFT WEST – ANKUNFT IM WESTEN DIE WESTZONEN Die Grundvoraussetzungen für eine effiziente und erfolgreiche Flüchtlingspolitik waren alles andere als ideal und ermutigend. Die Amerikaner betrachteten die in Potsdam beschlossene Ausweisung der Menschen aus den ehemals deutschen Ostgebieten zunächst vor allem als Transportproblem, das sie – technisch betrachtet - für lösbar hielten. Danach würde, so die Hoffnung der US-Verantwort- lichen, nahezu automatisch eine Integration der Neuankömmlinge in die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft stattfinden. Insgesamt stuften sowohl die amerikanische als auch die britische Militärre- gierung das gesamte Flüchtlingsproblem vorrangig als „rein deut- sche Frage“ ein und verzichteten daher auf die Entwicklung eigener Verteilungs- und Eingliederungspläne. Was sie hingegen fürchteten, war, dass Geflohene und Vertrie- bene Gettos mit sich dort entwickelndenMinderheitenproblemen bilden würden, die dann wiederum zu Aufruhr und Aufständen führen könnten. Deshalb waren die Alliierten bemüht, alte soziale Zusammenhänge weitgehend zu zerschlagen und rissen daher Dorf- gemeinschaften und oft auch größere Familien bei der organisierten Vertreibung gezielt auseinander. Das geschah beispielsweise, indem man von den Vertreibungszügen einzelne Waggons abhängte und die Insassen so unterschiedlichen Regionen zuteilte. So sollte die Wiederbelebung von Dorfgemeinschaften und damit die Entste- hung neuer landsmannschaftlicher Inseln unterbunden werden, um eine dauerhafte Integration und Assimilation zu erleichtern. Die Betroffenen verloren dadurch aber häufig das Aufgehobensein in einer Gemeinschaft vonMenschen gleicher Herkunft und Kultur und so oftmals den letzten Halt, folgte dem Verlust der Heimat je- ner der kulturellen Identität doch auf dem Fuße. 96 Sahen sich Amerikaner und Briten in diesem Punkt auf einer gemeinsamen Linie, unterschied sich ihre Flüchtlings- und Ver- triebenenpolitik in einem anderen Punkt ganz wesentlich: Die amerikanische Militäradministration forcierte in ihrem Einfluss- bereich den zügigen Aufbau von deutschen Flüchtlings-Sonder- verwaltungen, an deren Spitze jeweils Staatskommissare für das Flüchtlingswesen standen, denen Kommissare auf Bezirks- und Landkreisebene unterstellt waren. Die Briten setzten hingegen zu- nächst auf Flüchtlingskomitees, die sich aus Vertretern der deut- schen Verwaltungen, der Kirchen und der Flüchtlinge selbst zu- sammensetzten, denen wir in ihren lokalen Ausprägungen hier noch häufiger begegnen werden. Die Aufgaben der Flüchtlingsbe- treuung blieben dadurch unter – allerdings nicht gleichberechtigter - Einbindung der Betroffenen Teil der regulären Verwaltung. Pa- rallel dazu setzte die britische Militärregierung deutlich früher als die amerikanische auf die wirtschaftliche Integration als wichtigs- tem Faktor der angestrebten Eingliederung. 97 ImWesten Deutschlands zählten zunächst insbesondere Schles- wig-Holstein und Niedersachsen in der britischen sowie Bayern in der amerikanischen Besatzungszone zu den Hauptaufnahme- gebieten, weil sie als stark landwirtschaftlich geprägte Regionen weitaus weniger vom Krieg betroffen worden waren als städtische und industrielle Ballungszentren. So erklärten die Westalliierten beispielsweise das Ruhrgebiet zunächst zur „Schwarzen Zone“ und verhängten einen Zuzugsstopp. Der galt auch für zahlreiche weitere Städte, die zu diesem Zeitpunkt kaum mehr als Trümmerfelder darstellten, in denen schon die nicht evakuierte Restbevölkerung in Notunterkünften und Kellerlöchern hausen musste. Daher wur- den die ersten großen Flüchtlingstransporte aus dem Osten am Rheinland und an Westfalen vorbeigelenkt. 98 In nicht wenigen Gemeinden in den Agrargebieten hingegen sah sich die eingeses- sene Bevölkerung schon früh mit großen Zuzügen konfrontiert und fand sich in extremen (Ausnahme-) Fällen sogar als Minderheit wieder. 99 Im Durchschnitt stellten in den drei Hauptaufnahme- ländern der Westzonen die Flüchtlinge zu Beginn immerhin ein Drittel der Gesamtbevölkerung. 100 Das 1946 gebildete Bundesland Nordrhein-Westfalen galt zu- nächst nicht als unmittelbares Aufnahmeland für Flüchtlinge und Vertriebene. Das änderte sich dann jedoch ab 1946, als immer mehr von ihnen im Rahmen der Aktion „Swallow“ (Schwalbe) in Sammeltransporten einreisten. 101 Hinzu kamen dann sehr bald weitere Menschen, die weitgehend freiwillig in ein anderes Bun- desland wechselten. 400.000 verließen binnen kurzem Schleswig- Holstein, weitere 350.000 Niedersachsen und 265.000 Bayern. 102 Als nur bedingt freiwillig kann man hingegen die zwischen 1950 bis 1953 erfolgten Umsiedlungen arbeitsfähiger junger Männer bezeichnen, die aus landwirtschaftlichen Regionen in die Indus- triezentren in Nordrhein-Westfalen wechselten, wo im Zuge des beginnendenWirtschaftswunders dringend Arbeitskräfte benötigt wurden. 103 Bereits 1947 lebten in der amerikanisch-britischen Bizone rund 6,1Millionen Flüchtlinge und Vertriebene. Hinzu kamen 2,05Mil-

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