Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

183 DIE RAHMENBEDINGUNGEN: PROBLEME DER AUFNAHMEREGIONEN Belastung für die Betroffenen verdichtete. 1950 lebten in der Bun- desrepublik immerhin noch 917.000 Vertriebene inMassenlagern und Notunterkünften und auch fünf Jahre später existierten trotz aller Bemühungen imWohnungsbau noch immer 3.008 kriegsbe- dingte Lager, von denen 1.907Wohnlager waren, die fast 250.000 Flüchtlingen und Vertriebenen Unterkunft boten, von denen etwa die Hälfte seit mehr als acht Jahren auf eine menschenwürdige Un- terkunft warteten. 221 Erst Anfang der sechziger Jahre wurden die letzten Flüchtlingswohnlager aufgelöst. 222 Natürlich stellte es einen, wenn nicht gar den entscheidenden Schritt in ein eigenes neues Leben dar, wenn Betroffene das Lager oder das ungeliebte Notquartier endlich verlassen und eine eigene Wohnung beziehen konnten. Das geschah dann - verstärkt abMitte der 1950er-Jahre - auf der Grundlage der skizzierten Wohnungs- bauförderung, als immer mehr Gemeinden dazu übergingen, Ver- triebenenfamilien billig Bauland zur Verfügung zu stellen, das dann in Eigenregie und mit Unterstützung von Nachbarn und Freunden bebaut wurde. Ein wichtiger „Motor“ waren hierbei die Gelder, die im Rahmen des Lastenausgleichs ausgezahlt wurden und die oft überhaupt erst die Basis für den Hausbau stellten. Wenn sich die bewilligten Summen aus heutiger Sicht auch eher bescheiden ausnehmen, stellten sie angesichts der damaligen Kaufkraft der DM und Monatslöhnen zwischen 170 und 300 DM für die Be- troffenen zumeist doch kleine Vermögen dar, die einen wirklichen Neuanfang ermöglichten. Für die Flüchtlinge und Vertriebenen stellte das eigene Haus deshalb in aller Regel auch mehr dar, als nur eine bessere Unterkunft für die Familie. In einer von (Grund- ) Besitz geprägten Umgebung erhöhte es die soziale Reputation erheblich. Endlich „war man wieder wer“, und es wurde leichter, den Einheimischen „auf Augenhöhe“ zu begegnen. Mit dem eige- nenHaus oder zumindest einer eigenen, alleingenutztenWohnung wurde eines der wesentlichen Integrationshindernisse beseitigt. 223 Mathias Beer sieht in den „in den Boden getriebenen Fundamente der neuen Häuser und Kirchen“ daher den Ausdruck des „unüber- sehbaren Anfangs des Übergangs von einem befristeten Aufenthalt der Flüchtlinge und Vertriebenen hin zu ihrer dauerhaften Ver- wurzelung in der Bundesrepublik“. 224 Andererseits führte gerade die Ansiedlung in speziell ausgewie- senen Neubaugebieten mit Straßennamen, die auf die Herkunfts- gebiete verwiesen, nicht selten zur erneuten Gettoisierung der neu Zugezogenen. Es gebe, so konstatiert etwa Andreas Kossert, „kaum eine Gemeinde in der alten Bundesrepublik, in der seit den 1950er Jahren nicht ein geschlossenes Siedlungsgebiet am Ortsrand ent- standen“ sei und das mittels Straßennamen und Wappen von der Ankunft der Vertriebenen erzähle. Wenn auch bereits der erste Spatenstich signalisiert habe, dass aus einem vorübergehenden Auf- enthalt ein dauerhafter geworden sei, so habe die kommunale Sied- lungspolitik bisweilen zugleich die Isolierung der Vertriebenen ge- fördert. 225 Dennoch attestiert auch Kossert den neuen Unterkünften den Status einer „ersten Zuflucht im schwierigen Prozess der Integration“: „Hier fand die Gratwanderung zwischen Bewahrung des heimatlichen Erbes und Anpassung an neue Men- talitäten, Verhaltensnormen und Lebensformen statt. Hier begann der Weg zum Neubürger.“ 226 Bewilligungsbescheid auf Hannelore Beulens Antrag auf ein „Aufbaudarlehn“ vom 15. November 1963

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