Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

187 VOR ORT: JÜCHEN NACH 1945 DEM KRIEGSENDE ENTGEGEN Wegen seiner Lage imStädtedreieckMönchengladbach-Düsseldorf- Köln war das Jüchener Gebiet zwischen 1940 und dem Frühjahr 1945 immer auch indirektes Ziel der alliierten Bomberverbände. Die Nächte am Niederrhein waren entsprechend unruhig. Nach den akribischen Aufzeichnungen des evangelischen Jüchener Pfar- rers Haarbeck wurde allein im Ort selbst während dieser Zeit ins- gesamt 2.252 Mal Fliegeralarm ausgelöst. Weil die kleinen Dörfer jedoch nie selbst direktes Ziel der Angriffe waren, fielen die mate- riellen Schäden vergleichsweise gering aus und beschränkten sich zumeist auf zerstörte Dächer, geborstene Fensterscheiben und klei- nere Brände. Jede „verirrte“ Bombe konnte aber auch jederzeit schwere Schäden anrichten und Menschenleben bedrohen. So wurde Hochneukirch in der Nacht zum 31. August 1943 von einigen Sprengbomben und einer Luftmine getroffen, was ne- ben umfangreichen Verwüstungen auch zwei Todesopfer forderte. In der gleichen Nacht war auch das kleine Holz unmittelbar be- troffen: „Viele Bomben explodierten heute Nacht. (…) Eine ganze Familie blieb von einer solchen Bombe tot.“ 227 Auch Otzenrath und Spenrath hatten imRahmen der „Battle oft the Ruhr“ ab 1943 immer wiede unter solchen Zufallstreffern und den damit einher- gehenden Zerstörungen zu leiden. 228 Solch punktuelle, in ihren Auswirkungen jeweils recht überschaubare Ereignisse summierten sich und zwangen die Bewohner nicht nur immer wieder zu Repa- raturarbeiten, sondern führten wegen der permanenten Bedrohung zu einer dauerhaften Nervenbelastung. Auch Jüchen überstand den (Bomben-) Krieg weitgehend un- beschadet. Als Folge eines Angriffs wurde am 11. Februar 1944 mit einer 67-jährigen Frau das erste Bombenopfer beklagt. Mit der alliierten Invasion nahmen die Luftangriffe auf das niederrhei- nische Gebiet dann ab Juni 1944 nochmals deutlich an Anzahl und Intensität zu. So wurde in Jüchen allein am 22. September 1944 acht Mal Luftalarm ausgelöst, wobei vier dieser Warnungen als „Großalarme“ galten. Am 23. Dezember erlebte der Ort den nächsten großen Schrecken, als ein amerikanischer Bomber genau vor der Bäckerei Lorenz im Zentrum zerschellte, wobei beide Be- satzungsmitglieder sowie ein zufällig vorbeifahrender Radfahrer ums Leben kamen und das Gebäude vollständig zerstört wurde. Mit Beginn des Jahres 1945 rückte nicht nur die Front, sondern zugleich auch der aus der Luft drohende Tod kontinuierlich näher. Als „unglücklichen Tag“ hob der Jüchener Ortschronist die Nacht zum 29. Januar 1945 hervor, als eine Bombe das sogenannte „Rus- senlager“ auf dem Gelände der Weberei Busch traf, in dem zu die- sem Zeitpunkt neben rund 100 Ukrainerinnen auch 35 deutsche „Schanzer“ – also Kräfte imWestwall-Einsatz – sowie „einige Fran- zosen“ untergebracht waren. „Alle 160 lagen unter den Trümmern.“ Elf Zwangsarbeiterinnen und vier der – vermutlich jugendlichen - Westwall-Arbeiter wurden dabei getötet. Nur fünf Tag später fielen am 3. Februar erneut Bomben auf denOrt, wobei die Gartenstraße, die Bahnstraße sowie die Mühlenstraße getroffen und zwei Men- schen getötet wurden. Am 14. Februar schließlich wurde ein wei- teres „Russenlager“, nämlich jenes der Tuchfabrik Schwartz & Klein, getroffen, wobei 21 Zwangsarbeiter und zwei Deutsche ums Leben kamen. Ein Angriff am 25. Februar verursachte glücklicher- weise nur geringe Sachschäden, während zwei Tage später bei einem alliierten Tieffliegerangriff auf zwei deutsche Panzer drei weitere Zivilisten getötet wurden. 229 Auch Otzenrath wurde kurz vor Kriegsende nochmals unmittelbar getroffen. In der Nacht auf den 21. Februar fiel eine Luftmine in den Ort, die die gesamte Braun- straße und Teile der Jahnstraße weitgehend zerstörte und die evan- gelische Kirche einschließlich des Pfarrhauses sowie die Turnhalle stark beschädigte. 17 Menschen, auch unter ihnen neun Zwangs- arbeiter, die ungeschützt in ihren Wohnbaracken verharren muss- ten, kamen durch diese Bombe ums Leben. 230 Angesichts der schnell nahenden US-Armee drohte den Dorf- bewohnern aber noch eine weitere Gefahr, denn am 6. Dezember hatte der Stab der 6. SS-Panzerdivision „Frundsberg“ imOrt Stel- lung bezogen, dem bald noch eine „Betriebsstoffausgabestelle“ der Wehrmacht und kurz vor Kriegsende noch eine Werferbatterie folgten, womit direkte Kampfhandlungen drohten. Nicht zuletzt aufgrund dieser Ansammlung militärischer Einheiten wurde Ot- zenrath im Gegensatz zu den umliegenden Dörfern offenbar offi- ziell evakuiert. Jedenfalls erging laut Schulchronik am 25. Februar 1945 der entsprechende Räumungsbefehl. „Manche wurden ab- transportiert, viele hatten aber schon vorher den Ort verlassen.“ Während die Nachbargemeinden weitgehend kampflos aufgegeben wurden, sollte Otzenrath auf „höheren Befehl“ hin verteidigt wer- Blick in die durch die Luftmine zerstörte Hofstraße in Otzenrath, 1945

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