Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

Angehörige der SS-Division „Frundsberg“ beim Rückzug aus der Normandie, 1944. Von Ende September bis Mitte Dezember 1944 war die Division in Jüchen- einquartiert. 188 VOR ORT: JÜCHEN NACH 1945 den. Das Ergebnis solch sinnlosen Tuns war vorhersehbar: „Das brachte dem Ort in den Abendstunden einen wütenden Granat- beschuss ein, von dem wohl jedes Gebäude mehr oder weniger Schaden davontrug. Um 9 Uhr abends amMontag, den 26. Februar 1945 tasteten sich die ersten Panzer durch Hecken und Gärten. Am nächsten Tag kam dann das Gros der US-Armee.“ Auch in Wallrath waren rund 15 deutsche Soldaten – evtl. unter erhebli- chemAlkoholeinfluss – fest zur Gegenwehr entschlossen, was dem kleinen Ort einen heftigen Beschuss und zahlreiche zerstörte und beschädigte Gebäude bescherte. Angesichts solcher Gefahren dürf- ten die Jüchener aufgeatmet haben, als am Abend des 27. Februar nach dem Einsatzregiment Hänserich endlich auch die letzten Schanzarbeiter den Ort verließen, schien so doch die Gefahr di- rekter Kampfhandlungen erheblich reduziert, ohne es aber tat- sächlich – wie der nächste Morgen zeigen sollte – zu sein. Von einem auch nur halbwegs normalen Leben konnte in Jüchen und Umgebung längst keine Rede mehr sein. Das Nervenkostüm der Ortsbevölkerung war angesichts der zunehmenden Belastungen weitgehend zerrüttet und wurde durch die Angst vor den unbe- kannten Besatzern zusätzlich belastet. Aber auch der Alltag war in den Monaten zuvor zusehends „aus den Fugen“ geraten, was bei- spielsweise durch die Lage in den Dorfschulen zumAusdruck kam. Bereits seit Herbst 1944 war der Schulunterricht immer weiter eingeschränkt und bald darauf völlig eingestellt worden. In Hoch- neukirch geschah das aufgrund zunehmender Tieffliegerangriffe bereits im September, in Holz imOktober, als „Schanzer“ das Ge- bäude belegten, in Otzenrath schrittweise bis Dezember 1944. Auch die Kartoffel- und Möhrenernte, so heißt es in der Schul- chronik, sei unter solchen Umständen lebensgefährlich gewesen, „und so manches Zuckerrübenfeld ist imHerbst 1944 nicht abge- erntet worden“. Mit eskalierender Bedrohungslage stieg offenbar auch die Bereitschaft zur Flucht: „Zahlreiche Eltern verließen mit den KindernHochneukirch“, wurde von dort berichtet, und hätten sich unter die große Masse jener gemischt, die demRhein zuström- ten. Viele versuchten dabei möglichst auch ihre Lebensgrundlage zu retten. „Der Abtransport der Kühe von Dorf zu Dorf kenn- zeichnete die Lage immer mehr“, beobachtete der Otzenrather Schulchronist. Sein Bedburdycker Kollege konstatierte im Januar 1945 eben- falls deutliche Auflösungserscheinungen. „Die Alarme häufen sich Tag und Nacht. Die Front rückt näher. Die Spannung ist groß und aufregend. Evakuierungsmaßnahmen sind im Gange.“ Hierbei, so wusste er zu berichten, handele es sich um eine offizielleMaßnahme, deren Absicht es sei, die gesamte Bevölkerung des Grevenbroicher Kreisgebietes ins Bergische Land zu evakuieren. Hiergegen regte sich laut Darstellung in der Schulchronik aber offenbar eine vor- sichtige Opposition seitens der Kommunalverwaltung und der Leitung der Volksschule: „Doch von Seiten des Amtes und der Schule wird die Bevölkerung im Stillen aufgeklärt und ihr anheim- gegeben, hier zu bleiben und alles über sich ergehen zu lassen.“ Die feindliche Front, so die von diesen Stellen vertretene Ansicht, werde „schnell über unser Gebiet gehen, da hierselbst keinWider- stand ist und auch nicht unternommen wird“. Die Bevölkerung jedenfalls sei „standhaft“. „Niemand verlässt die Heimat. Alle halten aus und harren der Dinge, die nun kommen werden.“ Durch das besonnene und mutige Handeln Einzelner blieb auch Bedburdyck vor größeren Kampfhandlungen und Schäden bewahrt: Am 28. Februar, so notierte der an den Aktionen offenbar unmittelbar beteiligte Lehrer Lingen, seien letzte deutsche Trup- penteile durch Bedburdyck „geschlichen“, die berichtet hätten, dass vor Jüchen amerikanische Panzer aufgefahren seien. „Kurz danach vernimmt man schon deutlich Einschläge. Auf der Straße treffe ich Heister Adam und Broich Josef und beschließen wir, die weiße Fahne auf dem Kirchturm zu zeigen. Wir gehen zum Pfarrhaus und machen den Herrn Pastor auf die nahen Gefahren aufmerksam. Er ist sofort entschlossen, die Fahne zu zeigen und steigt selbst mit zum Turm hinauf. Kurz vorher erfolgte ein Ein- schlag in den Turm.“ Kaum wehte die weiße Fahne, endete der Beschuss des Ortes. „Herr Pastor ging danach mit einer weißen Fahne in Richtung der amerikanischen Panzerstellung und erklärte dem führenden Offizier, dass hierselbst keine Truppen lägen und die letzten heute früh in Richtung Neuss hinter den Rhein mar- schiert seien. Die Häuser und Bunker zeigten alle die weiße Fahne.“ 231

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