Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

31 DIE RAHMENBEDINGUNGEN: DIE LAGE IM OSTEN auf die Straße setzen, wenn ihnen ein Haus oder eine Wohnung gefiel. Denen blieb dann nichts übrig, als entweder bei anderen Deutschen einzuziehen oder sich in heruntergekommenen Woh- nungen und Ruinen, in Kellern oder auf Speichern einzurichten, die von polnischer Seite nicht beansprucht wurden. Durch Dekrete und Gesetze verloren die Deutschen aber nicht nur ihr Eigentum, sondern wurden auch ihrer bürgerlichen Rechte beraubt. An vielen Orten wurde angeordnet, dass Deutsche – wie bis zum Kriegsende die im Reichsgebiet eingesetzten Zwangsar- beiter ihre jeweiligen Kennzeichnungen - weiße Armbinden mit einem großen „N“ für das polnische „Niemiec“ oder das tsche- chische „Nemec“ (Deutscher) tragen mussten. 48 Auf dem Land mussten die Recht- und Arbeitslosen bei der Feld- und Stallarbeit helfen und wurden dafür zumeist mit Lebensmitteln entlohnt, um so überhaupt ihr Überleben zu sichern. Andere wurden in Ar- beitslagern interniert, wo viele umkamen. 49 Die Erfahrungen der Deutschen mit den neuen „Herren“, mit denen sie in untergeordneter Position zusammenleben mussten, waren sehr unterschiedlich und zwiespältig. Es gab, das geht aus den in diesem Band versammelten Lebensgeschichten hervor, „gute“ wie „schlechte“ Polen – je nachdem, wie sie sich verhielten. Das wiederum hing nicht selten davon ab, ob es sich bei den Neu- ankömmlingen selbst um Flüchtlinge handelte, die ihre an die Sowjetunion abgetretene ostpolnische Heimat zwangsweise hatten verlassen müssen. Die hiervon Betroffenen setzten ihr eigenes Schicksal mit dem der Deutschen oft verständnisvoll in Beziehung und versuchten friedlich mit ihnen zusammenzuleben. 50 Jenseits aller etwaigen positiven Beziehungen zwischen Einzel- nen blieb es Ziel der polnischen und tschechischen Regierung, alles „Deutschtum“ in ihren neuformierten Staatsgebieten auszu- löschen. Daher ging es zu keinemZeitpunkt um die Frage, wie ein künftiges Zusammenleben von Siegern und Besiegten „vor Ort“ gestaltet werden könnte. Im Kern war sowohl die polnische als auch die tschechische Politik ganz offensichtlich allein darauf aus- gerichtet, der verbliebenen bzw. zurückströmenden deutschen Be- völkerung dauerhaft die Existenzgrundlage zu entziehen, um ihr so einen Verbleib unmöglich zu machen. 51 VERTREIBUNG Was daraus folgte, wird nach Krieg und Flucht als „dritte Katastro- phe im Leben der Deutschen im Osten“ bezeichnet: deren zu- nächst „wilde“, nach Abschluss der Potsdamer Konferenz dann systematische Vertreibung. 52 Als „wild“ werden dabei jene Aktio- nen bezeichnet, die zwischenMai und Juli 1945 stattfanden 53 und eher einer von ungebremster Wut getragenen „Jagd“ glichen, die immer wieder in brutalen Übergriffen kumulierte. Sie war, wieMa- thias Beer betont, zumeist ein Reflex auf in den Jahren zuvor erlit- tenes Unrecht: „Die Ausschreitungen in Polen und der Tschechoslowakei gegen Deutsche oder Personen, die den Ein- druck erweckten, solche zu sein, waren Ausdruck der Vergeltung für Verbrechen, welche Deutsche oder Vertreter der deutschen Machthaber während des Kriegs begangen hatten.“ 54 Jenseits aller spontanen Gewaltausbrüche wies diese Phase je- doch auch einen eindeutig systematischen Charakter auf, denn durch die „wilden“ Vertreibungen wurden zu einem Zeitpunkt Fakten geschaffen, an dem längst noch nicht klar war, welche neuen Grenzziehungen und bevölkerungspolitischenMaßnahmen die alliierten Sieger beschließen würden. 55 Somit stellten sie das Kernstück der von polnischer und tschechischer Seite in dieser Frage ohne jegliche vertragliche Sanktionen vorangetriebenen „Po- litik der vollendeten Tatsachen“ dar. 56 Die „wilden“ Vertreibungen, die in Polen und der Tschecho- slowakei ihren Schwerpunkt hatten, dauerten bis in den Sommer 1945, als im Rahmen der Potsdamer Konferenz auch über diese Fragen diskutiert und Beschlüsse gefasst wurden, die die vierte Phase von Flucht und Vertreibung einleiteten. 57 Zunächst löste die damit geschaffene rechtliche Grundlage jedoch nicht die ge- wünschten Effekte aus, denn entgegen der im Artikel XIII der Potsdamer Beschlüsse festgeschriebenen Einstellung der Auswei- sungen fanden weitere „wilde“ Austreibungen statt. Sie dauerten bis weit in den Herbst, bis der Alliierte Kontrollrat am 20. No- vember 1945 endlich die Zahlen und Zielgebiete der Umsiedlun- gen bestimmte. Erst dadurch verbesserte sich die Lage der Be- troffenen, ohne allerdings juristischen und humanitären Standards zu entsprechen. „Human und ordnungsgemäß“, wie es in Potsdam festgelegt worden war, waren sie allenfalls im Vergleich zu den vo- rangegangenen „wilden Vertreibungen“. 58 Deutsche Zivilisten im Februar 1945 im Raum Danzig

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