Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

30 DIE RAHMENBEDINGUNGEN: DIE LAGE IM OSTEN LEBEN UNTER BESATZUNG Als dann schließlich die letzten Reste der zerschlagenen Wehr- machtsverbände den Kampf einstellten und die Flüchtlingstrecks von der Roten Armee überrollt wurden, sollte das Leiden der Zi- vilbevölkerung seinen Fortgang nehmen. 39 Sie sah sich nun den Rache- und Vergewaltigungsexzessen von Sowjetsoldaten ausge- setzt, denen seitens der sowjetischen Militärführung nur mühsam und spät Einhalt geboten werden konnte. Ein drastisches, auf die Nacht vom 9. zum 10. März 1945 zu datierendes Beispiel aus Groß Damerkow im pommerschen Kreis Lauenburg soll hier ausreichen, um die allgegenwärtigen Gefahren und die permanente Todesangst der Betroffenen beimZusammentreffen mit sowjetischen Truppen schlaglichtartig vor Augen zu führen: „Gleich darauf kam ein gro- ßer Russe rein. Er sagte keinWort, guckte sich imZimmer um und ging bis nach hinten durch, wo alle jungen Mädchen und Frauen saßen. Er winkte nur einmal mit dem Finger nach meiner Schwes- ter. Als diese nicht gleich aufstand, trat er dicht vor sie hin und hielt seine Maschinenpistole gegen ihr Kinn. Alle schrien laut auf, nur meine Schwester saß stumm da und vermochte sich nicht zu rüh- ren. Da krachte auch schon der Schuss. Ihr Kopf fiel auf die Seite, und das Blut rann in Strömen. Sie war sofort tot, ohne nur einen Laut von sich zu geben.“ 40 Hannelore Beulen und Astrid Kattha- gen, beide in Langeböse in der Nähe Lauenburgs geboren und auf- gewachsen, mussten 1945 ähnliche Erfahrungen machen, die sie imRahmen ihrer hier abgedruckten Lebensgeschichten schildern. Den eingeholten Trecks blieb in aller Regel keine andere Mög- lichkeit, als an ihre Ausgangspunkte zurückzukehren. Rund 1,2Mil- lionen der bis Mai 1945 insgesamt 7,5 Millionen geflohenen Ein- wohner aus denGebieten östlich vonOder undNeiße kehrten daher wieder um. 41 Die Rückkehr in die nunmehr besetzten und teilweise zerstörten Heimatorte bedeutete – sofern man sie überhaupt er- reichte 42 - allerdings keineswegs Ruhe und Schutz. Im Gegenteil: Die deutsche Bevölkerung erlebte hier weiterhin „eine Zeit blutigster Ausschreitungen und schlimmster Drangsalierungen“ mit Plünde- rungen, Brandschatzungen, Zerstörungen, Vergewaltigungen und willkürlichenTötungen.Wenn es in all diesemChaos immer wieder auch Beispiele humanen Verhaltens und couragierten Einschreitens seitens einzelner sowjetischer Soldaten gab, dominierten in der un- mittelbarenNachkriegszeit doch eindeutig die ungezähltenGewalt- taten gegen die Zivilbevölkerung. 43 Daneben standen andere repres- sive Maßnahmen, in deren Rahmen Teile der Deutschen – zumeist die arbeitsfähigen Männer – in Lagern interniert wurden. 44 Damit sahen sich die Mütter mit ihren Kindern oftmals in aussichtsloser Lage auf sich allein gestellt. Auch das wird in einigen der hier vorge- stellten Lebensgeschichten immer wieder deutlich. Wenn die Bedrohungen und Drangsalierungen für die Verblie- benen und Zurückgekehrten jenseits von Oder und Neiße auch nicht aufhörten, so sorgten die Besatzer aber immerhin dafür, dass die zivile Infrastruktur dort, wo sie noch halbwegs intakt war, wei- terhin funktionierte. In den Städten und Dörfern wurden neue deutsche Bürgermeister eingesetzt, um die Versorgung der Bevöl- kerung zu sichern. Es erschienen auch Zeitungen, in denen dazu aufgerufen wurde, „die Arbeit in Ruhe fortzusetzen“, da das auch im Interesse der deutschen Einwohner liege. 45 Unter solchen Prä- missen stellten sich die meisten dann bald auf ein zwar einge- schränktes, unter den gegebenenUmständen aber doch weitgehend „normales“ Leben ein, auch wenn ihre Rechtlosigkeit unter der Besatzung natürlich andauerte. Weitere Flüchtlingstrecks kehrten in ihre Heimatorte zurück, und obwohl auch Gerüchte die Runde machten, dass die Gebiete östlich der Oder an Polen abgetreten werden sollten, entschied sich kaum noch jemand für eine Flucht nachWesten. 46 ImGegenteil: In denWochen nach der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 versuchten zahlreiche zuvor Geflo- hene, wieder in ihre Heimat zurückzukehren, was man auf polni- scher Seite durch Sperren an den Grenzflüssen Oder und Neiße zu verhindern versuchte. 47 Die Hoffnungen auf deutscher Seite hatten jedoch nichts mit den Überlegungen derer gemein, die zuvor unter demNS-Regime und seiner aggressiven Besatzungspolitik gelitten hatten. So ver- suchte die polnische Regierung in Warschau bereits vor der noch ausstehenden Entscheidung der Siegermächte über die polnische Westgrenze vollendete Tatsachen zu schaffen. Seit Juni 1945 ström- ten polnische Migranten in die ehemals deutschen Ostgebiete und nahmen dort die Wohnungen und Höfe der deutschen Bevölke- rung kurzerhand in Beschlag. Die bisherigen Bewohner mussten ihren Besitz umgehend räumen, weil er per Dekret in das Eigentum des polnischen Staates übergegangen war. Künftig konnte jeder polnische Neuankömmling Deutsche nach eigenem Gutdünken Danzig, Treck auf dem Krebsmarkt, 21. Februar 1945

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