Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

29 DIE RAHMENBEDINGUNGEN: DIE LAGE IM OSTEN sichts des Tempos der Roten Armee hinreichend schnelle Trans- portmittel standen so gut wie keine zur Verfügung, so dass sich die bei WeitemmeistenMenschen gezwungen sahen, sich bei klir- render Kälte mit Pferdewagen und zu Fuß auf den ungewissen Weg zu machen. Das traf insbesondere auf die Bewohner der länd- lichen Gebiete zu. 31 Dabei mussten sie schnell erkennen, dass das NS-Regime und die deutschen Generäle der vorwärtsstürmenden Roten Armee nichts anderes als reine Durchhalteparolen entgegenzusetzen hat- ten. Aber anstatt in einer militärisch aussichtslosen Lage zumindest der wehr- und schutzlosen eigenen Zivilbevölkerung Hilfe zu leis- ten, verhielten sich die Verantwortlichen ihr gegenüber ausgespro- chen rücksichtslos. 32 Gerade die Wehrmachtsführung zeigte sich unerbittlich entschlossen, den Krieg ungeachtet der täglich in die Tausende gehenden Opfer an Zivilisten und Soldaten auch auf dem Reichsgebiet fortzuführen. 33 Währenddessen befanden sich Ende Januar 1945 rund fünf Millionen, bis Mai dann etwa 7,5 Millionen Deutsche auf einer ungeordneten, unvorbereiteten und zumeist panischen, ziellosen Flucht Richtung Westen, die spätestens durch das Auftauchen der ersten russischen Panzer ausgelöst wurde. 34 Dabei kollidierten sie oftmals im Wortsinn mit Wehrmachtsverbänden. Nicht selten wurden die Flüchtlingstrecks von den eigenen Landsleuten ohne Skrupel von den ohnehin matschigen und kaum passierbaren Stra- ßen gedrängt und hilflos in Gräben und anderem unwegsamen Gelände zurückgelassen. Dieter Wellershoff, damals Soldat an der Ostfront, erinnerte sich später: „Im Sand der Waldwege stecken Flüchtlinge mit ihren hochbeladenen Pferdewagen fest, Frauen und Kinder, einige alte Männer. ‚Soldaten, helft uns!‘, flehen sie uns an. Aber das ist sinnlos, und wir gehen weiter. Die Dämme sind gebrochen, und jeder kämpft jetzt hier um sein Überleben.“ 35 Auch jene, denen es gelang, den Weg nach Westen in einem Waggon der Reichsbahn anzutreten, mussten sich immer wieder anderen Interessen unterordnen, was zu gefährlichen Verzögerun- gen oder gar zum Tod führen konnte. Oft wurden solche Züge mit Flüchtlingen auf Nebengleisen abgestellt, weil die Hauptstre- cken fürWehrmachtstransporte freigehalten wurden. Hier mussten die in der Hauptsache aus Kindern und Greisen zusammengesetz- ten Transporte in eisiger Kälte tagelang ausharren. Oft machten sich daher verzweifelte Flüchtlinge bei Eiseskälte zu Fuß auf den Weg – den sie oft genug nicht überlebten. 36 Die großen Entfernungen bis ins Reichsinnere, fehlende Ver- kehrsmittel und durch Militärs verstopfte Straßen ließen für viele Menschen aus Ost- und Westpreußen oder Danzig oft nur noch einen überaus riskanten Fluchtweg offen: jenen über die Ostsee. 37 Für hunderttausende von Flüchtlingen aus Ostpreußen endete der Weg dann aber bereits in der Gegend umDanzig, wo kaum Schiffe und erst recht keine Züge für eine Weiterfahrt nach Westen zur Verfügung standen. Daher stellte man Trecks in Richtung Pommern zusammen, die jedoch Anfang März von der Roten Armee einge- holt wurden. Einem Teil der Fliehenden gelang es noch, in den Danziger Raum zurückzufluten, der zwischenzeitlich aber vom Reichsgebiet abgeschnitten und zummilitärischen Kessel geworden war. Als die Rote Armee am 13. März den Großangriff auf den Danziger Kessel begann, erreichte die Katastrophe ihren Höhe- punkt. Für wiederum andere Flüchtlinge führte der Weg in eine gänz- liche andere, für sie wohl völlig unerwartete Richtung. Nachdem Hitler am 4. Februar 1945 den Befehl erlassen hatte, aus demOsten „zurückzuführende Volksgenossen“ auch im noch von deutschen Truppen besetzten Dänemark unterzubringen, setzte abMitte Feb- ruar und zumeist über See ein großer Flüchtlingsstrom ein. 38 Diesen lebensgefährlichen Weg über das offene Meer sollten Tausende nicht überleben. Auch hier finden sich zwei Lebensgeschichten (Gertrud Zilliken und Charlotte Leibrandt), in denen von der dra- matischen Überfahrt und dem anschließenden Lagerleben in Dä- nemark berichtet wird. Ostpreußische Flüchtlinge in Pillau, 26. Januar 1945

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