Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

28 W enn hier von Rahmenbedingungen die Rede ist, so ist darunter das Vorhaben zu verstehen, die damaligen Er- eignisse in Ost und West in ihren Abläufen und Aus- wirkungen in groben Zügen zu skizzieren, um so zu gewährleisten, dass sowohl die individuellen Schicksale von Flüchtlingen und Vertriebenen als auch das Verhalten der Angehörigen der „Auf- nahmegesellschaft“ imWesten besser verstanden und eingeordnet werden können. Dass das für den Osten und denWesten Deutsch- lands getrennt geschieht, ist naheliegend und wird insbesondere den zahlreichenUngleichzeitigkeiten der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs gerecht. Der langjährige Prozess von Flucht und Vertreibung der Deut- schen erfolgte in drei Phasen, die sich mit den Begriffen Flucht, Vertreibung, Zwangsausweisung umreißen, aber nicht immer trenn- scharf unterscheiden lassen. 26 Je nach Region gab es unterschiedli- che Entwicklungen, von der jeweils der Zeitpunkt und auch die Art der Durchführung abhingen. Allgemein gilt: „Der Exodus be- gann mit der Flucht vor der Sowjetarmee, es folgten sogenannte wilde Vertreibungen durch polnische und tschechoslowakische Machthaber, die vor Beginn der Grenzverhandlungen Fakten schaf- fen wollten; am Ende stand die vertraglich festgelegte Vertreibung nach dem Potsdamer Abkommen.“ Die Rahmenbedingungen: Die Lage im Osten DEM KRIEGSENDE ENTGEGEN Im Oktober 1944 überschritten sowjetische Truppen in Ostpreu- ßen erstmals die deutsche Grenze. Obwohl NSDAP-Gauleiter Erich Koch jede Flucht ausdrücklich verboten hatte, machten sich nun zahlreiche Menschen auf den Weg nach Westen. Viele waren erschrocken über die Ereignisse bei der Besetzung der Ortschaft Nemmersdorf, wo am 21. Oktober 1944 bis zu 30 Zivilisten unter bis heute ungeklärten Umständen ums Leben gekommen waren. Die NS-Propaganda nutzte den Vorfall zu massiver Schreckenspro- paganda, die ab dem 27. Oktober reichsweit unter Schlagzeilen wie „Bestien wüteten in Ostpreußen“ verbreitet wurde. Solche Mel- dungen sollten Angst entfachen und zugleich den Widerstands- willen der Bevölkerung stärken. Während ersteres zweifellos gelang, wurde das zweite und eigentlich zentrale Ziel der Kampa- gne verfehlt. Massenpanik unter der ostpreußischen Zivilbevölke- rung statt sinnlose „Wehrhaftigkeit“ war das Resultat, mit dem der Exodus aus Ostpreußen seinen Anfang nahm. 27 Je weiter die Rote Armee in atemberaubendem Tempo vor- drang 28 , umso mehr Menschen machten sich auf den Weg nach Westen. Als sie Mitte Januar 1945 im Zuge einer Großoffensive die Weichsel überquerte, flüchteten 4 bis 5 Millionen Menschen aus Danzig, Ost- und Westpreußen, Ober- und Niederschlesien, Hinterpommern und Ostbrandenburg. Allerdings rechneten die wenigsten von ihnen damit, dass sie ihre Heimat damit endgültig verlassen hatten. Die meisten der Geflohenen warteten lediglich auf das Ende der Kampfhandlungen, um sich daraufhin – lange vor dem offiziellen Kriegsende - unverzüglich wieder auf denHeim- weg zu machen. Was sich auf den ersten Blick wie eine zwar überstürzte, aber doch noch relativ geordnete Fluchtbewegung vor der herannahen- den Front ausnimmt, war in Wirklichkeit ein völlig chaotisches Geschehen, ein „panischer Aufbruch“ 29 , in dessen Verlauf auf die hilflosen Zivilisten von keiner Seite die geringste Rücksicht ge- nommen wurde. Dabei war es keineswegs allein die sowjetische Seite, die bei ihremVormarsch rücksichtslos vorging, sondern auch das NS-Regime und die Wehrmachtsführung setzte im Rahmen eines „gigantischen Bluffs“ 30 ihre Prioritäten allein nach militäri- schen Erwägungen und gaben dem Kampf für den gänzlich un- realistischen „Endsieg“ eindeutig Vorrang vor einer geordneten Evakuierung der Zivilbevölkerung im Osten Deutschlands. Die regionalen und örtlichen NS-Behörden hatten auf Befehl der Berliner Führung bis zu diesem Zeitpunkt keinerlei Vorkeh- rungen zur Evakuierung der Zivilbevölkerung getroffen. Zunächst hielten sie eisern an einem ausdrücklichen Fluchtverbot fest und erteilten dann Genehmigungen viel zu spät. Moderne und ange- Flüchtlinge aus Ostpreußen, 1945

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