Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

317 VOR ORT: FLÜCHTLINGE IN JÜCHEN demnach ein Vorfall, der für einige Zeit „das Tagesgespräch“ in Gierath gewesen sei. Einige Zeit zuvor, so berichtete er, sei die ge- samte Dorfbevölkerung nämlich durch „das Verschwinden von Frau D. in helle Aufregung versetzt“ worden. „Sie stammte aus Königsberg, war Mutter von sieben Kindern; das jüngste hatte ein Alter von 3 Monaten.“ Anders als im Fall der Familie F. hatte Herr D. zwar Krieg und Flucht überlebt, musste aber, wie damals sehr viele arbeitsfähige geflohene Männer, von der Familie getrennt le- ben: „Ihr Mann arbeitete als Schlosser bei der Eisenbahn inWitten und kam nur alle 14 Tage nach Hause.“ Der eigentliche Grund des „Fortgehens“ von Frau D., so heißt es rückblickend weiter, sei „bis heute nicht geklärt“. „Er ist wahrscheinlich in einem Zustand see- lischer Depression zu suchen.“Während der Zeit ihrer Abwesenheit hätten sich die Nachbarn der Kinder angenommen, während sich der Jüchener Pastor Haarbeck um deren Unterbringung in einem Heim bemüht habe. „Drei lange Tage und Nächte vergingen. Alle Stellen bemühten sich fieberhaft um das Wiederauffinden der ver- schwundenen Frau. Da endlich kam die Nachricht: ‚Frau D. ist wieder da!‘ Was war geschehen? Unter demVorwand, einen Foto- graphen aufsuchen zu müssen, hatte sich Frau D. auf den Weg nach Jüchen gemacht, abends ein Kino aufgesucht und dann auf demNachhausewege angeblich die Orientierung verloren. An der Straße Jüchen-Grevenbroich sitzend, hatte sie ein vorbeifahrender Radfahrer bemerkt, nach Holzheim mitgenommen und in seiner Wohnung beherbergt. Dieser hatte dann ihre Anschrift erfahren und der Polizei in Gierath gemeldet, dass die Frau bei ihm sei.“ Da- raufhin sei der Ehemann verständigt worden, der seine Frau „un- verzüglich“ in Holzheim abgeholt habe. „Niemand war froher als die Kinder, die ihre Mutter nun wieder hatten.“ Die offenbare Überforderung und psychische Belastung von Frau D. war aber nicht weiter tragbar, weshalb die gesamte Familie innerhalb einer Woche nachWitten übersiedelte. „So wird dieser Vorfall in Gierath bald wieder vergessen sein“, schloss Lehrer Lenhoff seinen Eintrag, den er noch um die Mitteilung ergänzte, dass zwei Tage vor dem Umzug noch die beiden jüngsten Kinder der Familie D. in Gierath getauft worden seien und er gemeinsammit seiner Frau die Paten- schaft übernommen habe. Allein das kleine Gierath hielt hinsichtlich „Flucht und Ver- treibung“ also reichlich dramatische Geschichten und traurige Schicksale bereit, so dass man sich ausmalen kann, was in diesen Jahren insgesamt an individueller Not und psychischem Elend zu verkraften und später zu verarbeiten war. Das gilt ganz sicher auch für den letzten hier zu schildernden Fall von Ingrid G., die 1946 als heimatvertriebene Vollwaise nach Hochneukirch gekommen war, wo sie nach kurzem Lageraufenthalt in denHaushalt der orts- ansässigen Familie M. aufgenommen worden war. Alles in allem hatte Ingrid wohl noch Glück imUnglück, denn laut eines Berichts der Hochneukircher Gemeindeverwaltung vomMai 1953 traf sie es dort gut an: „Die gesamten Lebensunterhaltungskosten für das Kind wurden bis zum heutigen Tage von den Pflegeeltern getragen, sodass der öffentlichen Fürsorge keine Unkosten entstanden sind.“ Der Bericht resümierte in schönstemBeamtendeutsch: „Das Kind G. befindet sich bei Familie M. in guten Händen.“ 553 Das mag durchaus so gewesen sein, doch werden die extremen Verluster- fahrungen das weitere Leben der Waise mit Sicherheit nachhaltig beeinflusst und wohl auch stark beeinträchtigt haben. Psychologi- schen Beistand gab es damals jedenfalls auch in solch schweren Fällen nicht. Mit auf die Kleidung aufgenähten Angaben zur Person und Familie und zumeist ohne hinreichende Kleidung und/oder Schuhe kamen zahlreiche Kinder ohne Eltern und Familien im Westen an. Hier waren sie oft auf sich allein gestellt und bedurften ganz besonders intensiver Betreuung und Hilfe.

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