Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

316 VOR ORT: FLÜCHTLINGE IN JÜCHEN BEISPIELE Am Ende des Kapitels „Flüchtlinge in Jüchen“ gilt es nochmals daran zu erinnern, dass die bisherige umfangreiche Darstellung si- cherlich reich an Fakten und Ereignissen ist und Entwicklungen auf unterschiedlichsten Ebenen widerspiegelt. Hinsichtlich des tat- sächlichen Schicksals einzelner enthält es aber aufgrund der dürfti- gen Quellen eher wenige Einblicke und Eindrücke. Tragische Einzelschicksale mussten – bis auf die hier präsentierten Lebens- geschichten – weitestgehend ausgeblendet bleiben. Konflikte wer- den höchstens unterschwellig greifbar, was nicht zuletzt auch damit zusammenhängt, dass man auf die Frage nach konfliktbeladenen Szenen zwischen Einheimischen und Vertriebenen zumeist abwie- gelnde Antworten erhält. Beinahe jeder kennt Flüchtlinge, die in einheimische Familien eingeheiratet haben, weshalb eine nachvoll- ziehbare Scheu davor besteht, alte, nur langsam verheilte Wunden wieder aufzureißen. 551 Daher soll hier abschließend der Versuch unternommen werden, exemplarisch doch einiges von den oftmals extremen Notlagen aufscheinen zu lassen, mit denen sich damals viele Geflohene und Vertriebene konfrontiert sahen. Ermöglicht wird das durch die Be- obachtungen von Heinrich Lenhoff, damals Leiter der kleinen evangelischen Volksschule in Gierath. Er hatte, selbst gerade aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, die am 1. April 1950 eröffnete Schule übernommen und führte seitdem auch deren Chronik. Was er darin in den ersten Jahren seiner Tätigkeit unter dem Punkt „Verschiedenes“ mit Blick auf das Schicksal einzelner Flüchtlingsfamilien allein für das kleine Dörfchen festhielt, eröffnet recht unmittelbare Einblicke in die oft verzweifelte Situation Be- troffener und lässt erahnen, wie groß psychische Belastungen und physisches Leid für Einzelne damals tatsächlich sein konnten. 552 Ende 1950 notierte Lenhoff, dass seine Schüler Günter, Kurt und Paul F. aus Heberath am 7. November 1950 in eine Erzie- hungsanstalt in Düsseldorf-Wittlaer überwiesen worden seien. „Ihre Mutter Frieda F., die bei K. in Herberath wohnt, wurde das Erziehungsrecht genommen, weil sie die Kinder vollkommen ver- nachlässigte und die Gefahr einer völligen Verwahrlosung gegeben war.“ Offenbar verbarg sich hinter dieser Entwicklung das wohl nicht untypische Schicksal einer Flüchtlingsfamilie. Weil sie „bei“ jemandem wohnte und offenbar alleinerziehend war, deutet näm- lich alles darauf hin, dass es sich bei Frau F. um jemand handelte, der auf sich alleingestellt mit sieben Kindern die Flucht in den Westen hatte antreten müssen. Hier war sie aus nachvollziehbaren Gründenmit ihrer schier ausweglosen Situation und der Betreuung ihrer Kinder nun offenbar völlig hilflos, denn in ihrem Fall kulmi- nierten gleichmehrere Schicksalsschläge in völliger Überforderung: der Verlust des Ehemanns, der Verlust der Heimat und im Rhein- land dann eine vermutlich sehr beengte Unterbringung ohne Ar- beitsstelle und ausreichendes Einkommen. Weitere dramatische Ereignisse folgten. Gut ein Jahr später hielt der Lehrer am 20. Feb- ruar 1952 in der Chronik fest: „Vom Vormundschaftsgericht in Grevenbroich wurde ich zum Vormund über 7 Kinder F. aus Her- berath bestellt. Ihre Mutter, Frieda F., ist imDezember 1951 plötz- lich gestorben. 5 Kinder befinden sich in Fürsorgeerziehung.“ An anderer Stelle der Chronik berichtet Lehnhoff von der „sehr begabten Schülerin“ Regina B. aus Schlesien, „die im Verlauf des Krieges Vater und Mutter verloren hatte“ und zunächst bei ihren ebenfalls aus Schlesien nach Gierath vertriebenen Großeltern lebte. Nach einigen Jahren wurde das Mädchen von einem kinderlosen Ehepaar aus Düsseldorf adoptiert und anschließend aus Lenhoffs Obhut in die Schule in Hubbelrath überwiesen. Sieben Monate später veränderte sich die Lage erneut dramatisch, was Lenhoff unter der Überschrift „Ein Schicksal unserer Zeit“ in der Schul- chronik festhielt. Im Zentrum der Ereignisse stand nunmehr die Mutter von Regina B., die zuvor von ihren in Gierath untergekom- menen Eltern fünf Jahre lang mittels Rundfunkaufrufen und durch Einschaltung des Roten Kreuzes vergeblich gesucht worden war. „Alles Suchen war erfolglos.“ Die alten Leute, so der Schulchronist, hätten sich nach so langer Zeit mit dem Tod ihrer Tochter abge- funden gehabt und sich aufgrund ihres hohen Alters dazu durch- gerungen, ihr einziges Enkelkind Regina zur Adoption frei zu geben. „Nun kam ganz plötzlich ein Telegramm ausWienmit den inhalts- schwerenWorten: ‚Ich lebe, Brief folgt!‘ Dieser Brief gab nun Auf- schluss über das Schicksal einer schwer geprüften Frau. Sie hatte vor dem Kriege den jugoslawischen Fabrikanten B. geheiratet und lebte in glänzenden Verhältnissen. Beim Zusammenbruch war ihr Mann von Partisanen erschossen worden. Sie selbst wurde von ihren drei Kindern getrennt und lebte mit ihrem 4. Kind in Wien unter dürftigsten Verhältnissen. Vor ein paar Wochen nahm sie das An- gebot einer reichen Amerikanerin an, die ihr Reisegeld und Fahr- karte für die Überfahrt nach Amerika schickte und sie in ihrem Hause aufnehmen will. Durch einen glücklichen Zufall hat sie nun kurz vor ihrer Reise über den Ozean die Suchmeldung des Rund- funks erreicht.“ Nun beabsichtigte Frau B. auf ihremWeg nach Bre- men ihre Eltern und insbesondere natürlich ihre zwischenzeitlich ja adoptierte Tochter Regina zu sehen, während von den beiden anderen Kindern weiterhin jede Spur fehlte. „Das Schicksal dieser Familie ist symptomatisch für unsere Zeit. Wie viele ähnliche gibt es noch?!“ - Weiteres über das Schicksal von Renate enthält die Schulchronik nicht. So wissen wir nicht, ob sie mit ihrer Mutter in die USA übersiedelte oder bei ihren neuen Adoptiveltern blieb. Auch sämtliche weiteren offenen Fragen dieses Falles müssen wahr- scheinlich für immer imDunkeln bleiben. Am 13. Juli 1951 berichtete der Schulleiter kurz über die „Flüchtlingsfamilie“ D., die - bis dahin in der „alten Schule“ in Gierath untergebracht - nach Witten verzogen sei, wo die drei schulpflichtigen Kinder nun auch die Schule besuchen würden. Erst drei Wochen später legte Lenhoff unter der Überschrift „Fa- milientragödien mit zum Teil glücklichem Ausgang“ die Hinter- gründe dieses Umzugs ins Ruhrgebiet offen. Ausgangspunkt war

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