Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

320 DIE NACHKRIEGSZEIT IN JÜCHEN während der drei Jahre des Katechumenenunterrichts sehr gut verstanden und dank der Bemühungen des Pfarrers am Ende dieser Zeit eine „Einheit“ gebildet. Durch seine Art habe Haar- beck den Neuankömmlingen ein derart starkes Gefühl des An- genommenseins vermittelt, dass sie sich schließlich in ihrer Kirchengemeinde „zu Hause“ gefühlt hätten. Insofern komme der Kirche als Ort der Integration eine „sehr große“ Bedeutung zu. Neue Impulse und Vorbilder Ankunft und Eingliederung der vielen Menschen, auch das hebt Irmgard Coenen ausdrücklich hervor, seien keinesfalls als ein- seitiger Prozess verlaufen, in dessen Rahmen die mittellosen Ankömmlingen ausschließlich von den Einheimischen profitiert hätten. Ganz im Gegenteil hätten die Flüchtlinge und Vertrie- benen zahlreiche neue Impulse von außen in die Dörfer getra- gen und dadurch vielfach geholfen, dort überkommene und verkrustete Strukturen aufzubrechen. Besonders in Erinnerung ist ihr dabei eine Familie mit vier Kindern geblieben, die aus der Lausitz nach Jüchen gekommen ist und auf der Kölner Straße eine kleine Wohnung zugewiesen bekommt. „Die Mutter dieser vier Kinder feierte einen Kinder- geburtstag – so wunderschön, dass ich da heute noch dran denke.“ Der Grund für Irmgards Begeisterung ist der Umstand, dass zu diesem Fest auch Jüchener Kinder eingeladen werden, für die das etwas völlig Neues darstellt. Diese Frau, so glaubt Irmgard Coenen rückblickend, habe einen „Weitblick“ gehabt, „den unsere Jüchener Mütter nicht hatten“. „Ich fand das so toll, dass wir da eingeladen waren.“ Auch dass die Mutter mit den Kindern gemeinsam feiert, ist für die kleine Irmgard etwas bis dahin gänzlich Unbekanntes. Zwar sei aus diesem Anlass am Niederrhein auch schon zuvor gefeiert worden, aber rein innerfamiliär und höchstens mit den Großeltern oder Tanten als Gästen. „Aber nie Kinder! Keine Jüchener Mutter spielte mit Kindern! Keine! Und das diese Frau uns Jüchener Kinder einlud und mit uns zusammen den Kindergeburtstag von Regine gefeiert hat, das war eindrücklich.“ Nicht zuletzt dadurch sei die Bekanntschaft und anschließende Freundschaft unterei- nander erheblich gefördert worden, was letztlich zur Integration beigetragen habe. Ihr, so setzt Irmgard Coenen ihre Erzählung fort, sei schon damals als Kind aufgefallen, wie „clever“ viele der Flüchtlings- kinder gewesen seien. Besonders nachhaltig ist ihr dabei ihr Mitkonfirmant Peter Beyer in Erinnerung geblieben, der später lange als Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland tätig sein wird. „Der stellte Fragen, auf die wir Jüchener noch gar nicht gekommen waren.“ Die neu hinzugekommenen Kinder seien in aller Regel sehr interessiert und lernbegierig gewesen. Für sie selbst, so Frau Coenen, hätten sich, nachdem sie die ersten zehn Jahre ihres Lebens ausschließlich unter Jüchenern aufgewachsen sei, durchaus neue Welten eröffnet. „Auf einmal kamen Kinder von anderswo her und waren aber auch clever.“ Das habe sie mit Achtung beobachtet und wahrgenommen. „Das trug auch zum Ansehen der Vertriebenen bei.“ Irmgard Coenen kann sich hingegen nicht daran erinnern, dass das Phänomen „Flucht und Vertreibung“ am heimischen Küchentisch Gesprächsthema gewesen sei. Dort hätten andere Dinge im Vordergrund gestanden wie etwa die Entwicklung der sechsköpfigen Familie und insbesondere der Aufbau des eigenen Malergeschäfts. „Da waren Vertriebene nicht mehr das Thema.“ Bilder der Jüchener Konfirmanden der Jahre 1943 und 1949. Die Zunahme durch Kinder von Flüchtlingen und Vertriebenen ist augenfällig. Irmgard Coenen auf dem Bild aus dem Jahr 1949 stehend 6.v.r.

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