Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

322 VOR ORT: ANPASSUNG ODER INTEGRATION? worden waren. 556 - Flüchtlinge und Behinderte, so hat es den An- schein, galten als hilfs- und damit spendenbedürftige Außenseiter, denenman im Sinne christlicher Nächstenliebe zuWeihnachten et- was zukommen ließ – wohl nicht zuletzt, um das eigene Gewissen zu beruhigen. Und auch 1950 blieben die Hochneukircher „Ost- vertriebenen“ bei ihrer Weihnachtsfeier gänzlich unter sich. 557 Auch auf anderen Gebieten war für die Dörfer des heutigen Jü- chener Gemeindegebiets zwischen Einheimischen und Neuan- kömmlingen wenig Gemeinsames und Integratives auszumachen. Einer Annäherung stand ganz offenbar neben anderen Faktoren ein ausgeprägtes gegenseitiges Unverständnis in kulturellenDingen entgegen, das noch durch oftmals sehr unterschiedliche Mentali- täten vertieft wurde. Im gesamten Grevenbroicher Kreisgebiet wur- den die Vertriebenen zwar nicht müde, auch die Einheimischen zu ihren Kulturabenden einzuladen, um sie mit ihren jeweiligen Regionalkulturen vertraut zu machen, doch glich das Ergebnis je- nem, das bei den Weihnachtsfeiern zu beobachten war: Zwar er- schienen örtliche Honoratioren, doch - wie die Vertriebenen immer wieder beklagten - folgte die alteingesessene Bevölkerung solchen Einladungen gar nicht oder nur in sehr geringer Zahl. Das allge- meine Interesse war und blieb sehr lange Zeit gering. 558 So etwa an einem Heimatabend der Hochneukircher „Ostvertriebenen“ am 30. Mai 1950 im Saal Beyermann. „Es wird ein schöner Abend werden. Gäste willkommen“, lautete die Werbung im Amtsblatt, der Einheimische aber kaum gefolgt sein dürften. 559 Man tat sich also schwer, wobei auf Seiten jener Flüchtlinge und Vertriebenen, die als Protestanten ins katholisch geprägte Rheinland gekommen waren, die Konfrontation mit dem Schüt- zenwesen und Karneval oftmals wohl einem kleinen Kulturschock gleichkam. Dennoch waren es letztlich die Vereine und hier ins- besondere die Schützen- und Sportvereine, die erste zaghafte Schritte in Richtung auf eine Integration ermöglichten, wenn die in aller Regel auch recht einseitig ausfiel. Aber auch auf dieser Ebene war aller Anfang schwer. Am 2. November 1947 sah sich die Kreisverwaltung veranlasst, ein Schrei- ben an die Amts- und Gemeindedirektoren zu richten, in dem Klage darüber geführt wurde, dass nach Auskunftmehrerer Flücht- lingssprecher „die örtlichen Sportvereine nicht immer bereit“ seien, „Flüchtlinge als Mitglieder aufzunehmen“. Eine derartige Zurück- setzung, so betonte die vorgesetzte Behörde, sei keinesfalls akzep- tabel und wies die Kommunen an, „unverzüglich eine Zusammen- kunft zwischen den örtlichen Flüchtlingssprechern und den Vorsitzenden der Sportvereine herbeizuführen und dabei darauf hinzuwirken, dass sie willige Flüchtlinge als aktive und passive Mit- glieder aufnehmen“. Auch die Flüchtlinge selbst sollten auf die Möglichkeit einer Vereinsmitgliedschaft hingewiesen werden, „da- mit in dieser Hinsicht ein Zusammenschluss erzielt werden“ könne. Bislang seien im Kreisgebiet Flüchtlinge „nur in seltenen Fällen“ als aktive Sportler in Erscheinung getreten. Der zur Berichterstat- tung aufgeforderte Jüchener Amtsdirektor Lesaar teilte am 26. No- vember 1947 lapidar mit, dass imOrt bislang bei „keinem Flücht- ling“ der Wunsch bestanden habe, „sich als aktives oder passives Mitglied“ in einen der Sportvereine aufnehmen zu lassen – eine angesichts der Quellenlage nicht zu verifizierende Aussage. 560 Es ist aber nur schwer vorstellbar, dass gerade die schulpflichtigen Flüchtlingsjungen keine Ambitionen gehegt hätten, ihrem zumeist sehr ausgeprägten Interesse am Fußball aktiv in Vereinen nachzu- gehen. Die hier in der Lebensgeschichte von Astrid Katthagen enthaltene Erzählung ihres Bruders Dietmar Kusch dürfte in dieser Hinsicht nur eins von vielen Beispielen sein. Das Interesse an einer zügigen Integration war bei den Einhei- mischen aber offenbar in keinerlei Hinsicht besonders ausgeprägt. Als kleiner Beleg dafür kann folgende Episode gelten: Am 26. April 1948 hatte der nordrhein-westfälische Sozialminister per Erlass auf die besonderen Anforderungen bei der „Betreuung der Vertriebe- nen-Jugend“ hingewiesen und verschiedene Aufgaben aufgelistet, die direkt vor Ort zu leisten seien. Hierzu zählten unter anderem die Anwerbung solcher Jugendlicher durch Sport-, kirchliche oder sonstige Vereine und die Vermittlung von Lehrstellen. Der Düssel- dorfer Regierungspräsident leitete diesen Erlass mit erheblicher Verzögerung erst am 14. Juni 1948 zur weiteren Veranlassung an die Kreisverwaltungen weiter, wo man sich auch nicht eben beeilte, um in seinem Sinne tätig zu werden. In Grevenbroich blieb das Schriftstück dann nämlich „irrtümlich“ nochmals länger unbear- beitet liegen und wurde erst am 21. September 1948, also fünf Mo- nate nach seiner Verabschiedung, an die Kommunen weitergereicht, die nun allerdings aufgefordert wurden, „sobald als möglich das Erforderliche zu veranlassen“. „Ich bitte vor allem, mit den in der dortigen Gemeinde bestehenden Jugendorganisationen jeder Art zu verhandeln und ihnen besonders nahe zu legen, Jugendliche aus den Reihen der Vertriebenen aufzunehmen.“ 561 – Ob diese nicht ebenmit Hochdruck verfolgte Angelegenheit anschließend irgend- welche Erfolgte zeitigte, ist leider nicht überliefert. Der Integrationsprozess verlief vor allem in ländlichen Regionen zumeist wohl recht einseitig, denn die Einheimischen erwarteten in aller Regel eine weitgehende Assimilation der Zugezogenen. Wie das aussehen konnte, zeigt ein Beispiel aus Neuss. Hier orga- nisierte der Verein der Neusser Heimatfreunde Anfang der 1950er Jahre unter demMotto „Einander kennen lernen und das Fremde überwinden“ eine große Veranstaltung, zu der die Vertriebenen aus der Stadt und dem Umland ebenso eingeladen waren wie Mi- nisterpräsident Karl Arnold. Im Mittelpunkt des Treffens stand bezeichnenderweise ein Vortrag in rheinischer Mundart, der unter dem Titel „Dat ess ons Heimat“ den Vertriebenen die Stadt Neuss näher bringen sollte – ohne dass diese dessen Inhalt überhaupt verstehen konnten! Ganz offensichtlich glaubten die „Heimat- freunde“, dass das zu überwindende „Fremde“ allein die von den Zuwanderern mitgebrachten landsmannschaftlichen Identitäten seien und die Voraussetzung des Kennenlernens deren vollständige Aufgabe mit anschließender kultureller Anpassung. 562

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