Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

339 RESÜMEE UND AUSBLICK durch ihre Ankunft und durch ihre Teilhabe am öffentlichen Leben zumindest in Teilen in Frage gestellt und in sozioökonomischer Hinsicht neue und moderne Verhaltensweisen eingeführt. In dieser Hinsicht, so fasst Andreas Kossert die Wirkung zusammen, seien die Flüchtlinge und Vertriebenen gerade in ländlichen Regionen „zu einem Modernisierungsfaktor ersten Ranges“ geworden. 630 - Die diesbezüglichen Schilderungen von Irmgard Coenen sprechen in dieser Hinsicht Bände. Integration darf - auch heute – nicht als eine einseitige Einpas- sung in die aufnehmende Gesellschaft, sondern stets als ein beid- seitiger Prozess verstanden werden. Einheimische und Flüchtlinge mussten sich an neue oder zumindest grundlegend gewandelte Le- bensbedingungen anpassen, die nicht mehr die gleichen waren wie vor 1939 bzw. 1945. Der Begriff „Integration“, darin ist Dagmar Kift vorbehaltlos zuzustimmen, ist für die Jahre nach 1945 nur dann sinnvoll angewendet, „wenn er berücksichtigt, dass auch die Einheimischen sich verändern mussten“. 631 Und damit war eine erfolgreiche Integration der Vertriebenen nicht nur eine gewaltige Leistung eines weitgehend zerstörten Landes, sondern nicht zuletzt auch das Verdienst der Vertriebenen selbst. 632 Das trifft, unter anderem belegt durch die hier nachzulesenden Lebensgeschichten, auch auf die Dörfer der heutigen Gemeinde Jüchen zu. Die weitaus meisten der Zuwanderer hegten nichts an- deres als den Wunsch, den Lagern oder Notunterkünften zu ent- fliehen und eine eigene, zunächst selbstverständlich bescheidene Wohnung zu beziehen. Sie waren bereit, viel und hart zu arbeiten, um ihren Anteil amWiederaufbau des zerstörten Landes zu leisten. Vor allem aber strebten sie, als sich sehr bald jede Perspektive auf eine Rückkehr zerschlagen hatte, danach, nicht mehr Objekt von Hass oder Spott zu sein, sondern den Status von gleichberechtigten Partnern zu erlangen. Ein kleiner Junge brachte damals den als so verletzend empfundenen Unterschied zu den Einheimischen auf den Punkt, als er weinend von der Schule heimkam, wo man ihn als „Flüchtling“ verspottet hatte: „Ich bin kein Flüchtling, ich bin doch Egerländer!“ 633 An der hier am Beispiel Jüchens geschilderten deutschen Zu- wanderungsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg wird in den Worten von Mathias Beer hoffentlich deutlich geworden sein, „dass Integration kein selbstläufiger Prozess ist“. Außerdem lässt sich Integration auch nicht allein und wohl auch nicht in erster Linie durch staatlicheMaßnahmen erreichen. „Integration ist, auch beim Zusammentreffen von deutschen Landsleuten, die von Kon- flikten begleitete Begegnung vonMenschen unterschiedlicher Her- kunft, Sprache und unterschiedlichen Glaubens. Integration braucht Zeit, sie erstreckt sich über Generationen. Integration kann zumWohle aller, der Alt- und Neubürger gelingen. Integra- tion kann erfolgreich sein.“ Dieses Plädoyer hat heute mehr denn je seine Berechtigung und sollte zu einer tieferen öffentlichen Auseinandersetzung mit den Folgen von Krieg und daraus resultierender Flucht und Vertreibung anregen. Man sollte nie vergessen, dass die Geschichte der Bun- desrepublik „eine Integrationsgeschichte sondergleichen“ ist, die mit den nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Geflohenen und Vertriebenen erst ihren Anfang genommen hat. „Es ist eine Ge- schichte, die wesentlich von der Begegnung, dem Abtasten, An- nähern und dem Verschmelzen von Alt- und Neubürgern geprägt ist. Die Bundesrepublik ist nicht erst seit gestern ein Integrations- land, sondern ein Integrationsland von seiner Geburtsstunde an.“ 634 Ein persönlicherWunsch möge demAutor amEnde seiner Un- tersuchung in dieser Hinsicht gestattet sein: Betrachtet man das Ausmaß der ungeheuren Belastungen, die nach 1945 hinsichtlich Flucht, Vertreibung, Aufnahme und Integration von der vonMan- gel und oftmals sicherlich auch Verzweiflung geprägten deutschen Gesellschaft bewältigt wurden, erscheinen die Herausforderungen der aktuellen Fluchtbewegung doch eher überschaubar und in vie- len Regionen des Landes tatsächlich als marginal. Für ein in weit- gehendemWohlstand und vor allem im Frieden lebendes Gemein- wesen sollte es ein Leichtes sein, die wirklich Gefährdeten und Bedürftigen, die hier Schutz und Hilfe suchen, wie selbstverständ- lich zu unterstützen. Natürlich schaffen wir das! Das ist doch keine Frage, sondern eine Selbstverständlichkeit - und insbesondere auch eine große Chance! Blick in ein Notquartier in Paderborn, April 1951

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