Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

38 AUS DEM LEBEN VON GERTRUD ZILLIKENS rige kann natürlich die damit ver- bundene Gefahr nicht einschätzen. „Ich habe immer gesagt: ‚Papa, Du kommst immer wieder nach Hause.‘“ Der Abschied ist auch so schon schwer genug, denn die kleine Gertrud hängt sehr an ihrem Vater. „Der hat für mich alles be- deutet.“ Vom eigentlichen, direkt erfahr- baren Kriegsgeschehen bleiben Braunsberg und damit Gertrud lange verschont. Man sieht die Flugzeuge auf ihremWeg nach Kö- nigsberg, hört auch die Explosio- nen der dortigen Bombenabwürfe, ohne selbst betroffen zu sein. Das ändert sich, als die 1910 geborene Mutter Katharina und ihre drei Töchter Hedwig (*1930), Gertrud und Angelika (*1935) eines Tages Vater Otto in dessen Kaserne in Königsberg besuchen und dort un- mittelbare Zeugen eines Bomben- angriffs werden. Gertrud ist scho- ckiert und kann die schrecklichen Ereignisse nicht verstehen: „Das war so schlimm. Da sind die Men- schen, die hatten Phosphor an der Kleidung, die sind in die Pregel ge- sprungen. Die kamen dann hoch, und die brannten immer wieder. Ver- brannte Leute liefen durch die Stadt. Das war grausig, einfach grausig. Ich konnte das einfach nicht begreifen, dass es so etwas gibt.“ Nach diesen schrecklichen Erleb- nissen und mit bangen Gefühlen – auch die Kaserne des Vaters ist ge- troffen worden - fahren Mutter und Töchter nach Braunsberg zurück. Sie sind erleichtert, als sie kurz darauf ei- nen Brief des Vaters erhalten, dass alles in Ordnung sei. Das in dieser Hinsicht größte Unglück steht jedoch noch bevor: Otto Riediger wird gegen Kriegsende schwer verwundet und stirbt kurze Zeit darauf in einem La- zarett im thüringischen Greiz, ohne dass die Familie davon zunächst er- fährt. „Mein Vater starb mit 39 Jahren im Krieg“, blickt Gertrud Zillikens heute noch tieftraurig zurück, denn es war ihr nie vergönnt, ihren so ge- liebten Vater richtig kennenzulernen. Pflege und Versorgung der drei Töchter liegen seit Kriegsbeginn allein auf den Schultern von Mutter Katha- rina. Es habe aber – zumindest in der ersten Zeit des Krieges - nie an etwas gemangelt, erinnert sich Gertrud Zil- likens. Erste Seite des letzten, am 12. Januar 1945 im Lazarett verfassten Briefs von Otto Riediger. Er verheißt nichts Gu- tes: „Wenn ich mal in Urlaub komme, werde ich mit einem Bein kommen. Es sieht nicht gut aus.“ Dem Königsberger Schock folgt bereits am nächsten Tag mit dem ersten Luftangriff auf Braunsberg ein weiteres einschnei- dendes Ereignis. „Da waren wir so erschrocken, denn da haben wir ja nichts von gewusst, dass das bei uns auch kam“, umreißt Gertrud Zillikens ihre damalige Ahnungslosigkeit. Jedenfalls ertönen in Braunsberg die Sirenen, und auch das kleine Städt- chen wird nun Ziel alliierter Bomber. „Ich kann Ihnen sagen, da hat alles gerappelt.“ Die Siedlung, in der Familie Riediger wohnt, bleibt zum Glück aber verschont. Daher kann die in der total zerstörten Bahnhofsstraße wohnende Tante mit ihrem Sohn in die Wohnung aufgenommen werden. Lange Zeit hat Mutter Katharina versucht, alles Bedrohliche von ihren Töchtern fernzuhalten. „Meine Mutter hat uns gar nichts gesagt. Sie hat wohl gesagt: ‚Kinder, hoffentlich treffen die unser Haus nicht.‘“ Doch was ihnen widerfahren kann, wis- sen die Mädchen nun aus eigener Anschauung, denn sie haben das zerstörte Braunsberger Zentrum besucht. „Da war schon alles kaputt.“ Zugleich beginnen der sowohl psychisch als auch physisch überforderten Mutter die Dinge langsam aus der Hand zu gleiten. Dabei spitzt sich die Lage nun schnell und drama- tisch weiter zu, wobei einige zeitliche Abläufe im Rückblick nicht mehr eindeutig zu rekonstruieren sind. Klar ist hingegen, dass im Frühjahr 1945 der Zeitpunkt heranrückt, von dem an die noch nicht zwölfjährige Gertrud zunehmend mehr Verant- wortung für das Schicksal von Mutter und Schwestern über- nehmen muss. „Mama, wir müssen gehen!‘“ – Fluchtverbot

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