Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

39 AUS DEM LEBEN VON GERTRUD ZILLIKENS Das beginnt mit den aus den Bombenangriffen und dem schnel- len Heranrücken der Front zu zie- henden Konsequenzen. Gauleiter Koch hat für Ostpreußen ein strik- tes Fluchtverbot verhängt, dessen Einhaltung auch in Braunsberg kontrolliert wird. „Wir durften ja nicht fliehen, wir durften nicht ge- hen. Der Hauswart, der hat gesagt: ‚Ihr bleibt hier!‘“, beschreibt Gertrud Zillikens die verfahrene Situation. Das Verbot wird auch nach dem Angriff auf den Ort selbst aufrecht- erhalten. Katharina Riediger ist zu diesem Zeitpunkt angesichts der Zerstö- rungen und wohl auch aufgrund der lebensbedrohlichen Verwun- dung ihres Mannes offenbar kaum mehr in der Lage, dringend not- wendige Entscheidungen zu tref- fen. So weigert sie sich, die Woh- nung und damit auch Braunsberg und Ostpreußen zu verlassen. „‚Hier gehe ich nicht raus‘, sagte meine Mutter, ‚hier bleibe ich!‘“ Die kleine und angsterfüllte Gertrud ver- sucht gegenzusteuern: „Ich sagte: ‚Mama, die Leute hier sind alle schon weg. Mama, wir müssen gehen!‘“ Ihre Initiative wird zunächst aber dadurch abgeblockt, dass zu diesem Zeitpunkt zwölf Wehrmachtsangehö- rige in der Wohnung der Riedingers einquartiert werden. „So viele Betten habe ich doch gar nicht“, habe ihre Mutter daraufhin wenig realitätsbezo- gen gesagt. „Die liegen auf der Erde. Meinen Sie denn, Soldaten bekämen hier noch ein Bett!“, lautet die nahe- liegende Antwort. Zugleich wird Ger- trud im Wortsinn deutlich vor Augen geführt, was in Kürze zu erwarten ist. Einer der Einquartieren lässt sie durch sein Fernglas aus dem Fenster schauen: „Und wir sahen auch schon von Frauenburg runterkommend die russischen Panzer.“ Das einzige in den Westen gerettete Ernnerungsstück an Braunsberg ist dieser 1940 ausgestellte „F.U.-Ausweis“ (Familienunterhalts-Ausweis] Braunsberg ist durch Luftangriffe und Artilleriebeschuss längst weitgehend zerstört – beim Einmarsch der Roten Armee am 20. März 1945 liegen rund 80 Prozent des Kleinstädtchens in Schutt und Asche -, als seitens der Wehrmacht endlich und unmissverständlich zur Flucht aufgefordert wird. „Sie kamen zu meiner Mutter und sagten: ‚Sie müssen sofort gehen. Kein Gepäck, kein Garnichts! Das was Sie in der Hand haben, und dann gehen Sie. Wir hatten noch nicht einmal Sachen zum Um- ziehen“, schildert Gertrud Zillikens noch heute entsetzt die Dra- matik der Situation. „Wir wurden regelrecht rausgeschmissen.“ Nun rächt es sich, dass Mutter Katharina zuvor jeden Flucht- gedanken rigoros abgelehnt und daher auf jegliche Vorberei- tung verzichtet hatte. Auch nun weigert sie sich zunächst weiter und führt als Grund die schwere Krankheit ihrer ältesten Tochter Hedwig an. Die würde, so erklärt sie einem Soldaten, bei einer Flucht sterben. Der aber bleibt unbeeindruckt: „Sie müssen aber“, habe er kurz und knapp erklärt. „Wenn Sie nicht gehen, halte ich Ihnen die Pistole auf die Brust! Sie müssen! Sie haben doch Kinder! Sie müssen gehen!“ Man fügt sich ins Unausweichliche: „Ja, dann sind wir gegangen.“ Zuvor habe man angesichts der winterlichen Temperaturen so viel wie eben möglich überei- nander angezogen. Ansonsten darf lediglich etwas Handgepäck mit einigen Kleinigkeiten mitgenommen werden. „Noch nicht einmal Papiere oder irgendetwas. Gar nichts hat sie mitgenom- men“, zeigt sich Gertrud Zillikens irritiert über das Verhalten ihrer Mutter. Auch in anderer Hinsicht hat Katharina Riediger – wie so viele andere mit ihr - die Zeichen der Zeit noch nicht er- kannt. Trotz des übereilten Aufbruchs, so erzählt Tochter Ger- trud in der Rückschau, habe ihre Mutter noch einen großen Einkochkessel mit Wasser auf den Küchenherd gestellt. „Wenn wir zurückkommen, dann können wir schön baden.“ „Sie müssen sofort gehen. Kein Gepäck, kein Garnichts!“ – Ausgewiesen

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