Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

83 AUS DEM LEBEN VON HANNELORE BEULEN Das mag auf den ersten Blick verwunderlich scheinen, wächst er damals doch sozusagen als „Eingeborener“ auf. Be- trachtet man seine persönliche Situation jedoch genauer, wird seine Sichtweise verständlich. Gerd wird mit der das Familien- leben dominierenden Geschichte von Flucht und Vertreibung groß. „In der Not rückt man zusammen“, sei damals die Devise der in den Westen vertriebenen Verwandtschaft gewesen, die sich oft in Garzweiler oder Jüchen getroffen und sich dann über die alte Heimat unterhalten habe. „Und ich habe mir das zu eigen gemacht“, resümiert er seine damalige innerfamiliäre Sozialisation. Man habe die alten pommerschen Lieder gesun- gen. „Da habe ich mitgesungen, und mich auch als Teil dessen verstanden.“ Aus den um Flucht und Vertreibung kreisenden Gesprächen der Erwachsenen entwickelt sich früh Gerds eigene Sicht auf die Dinge: „Das habe ich als ungerecht empfunden und gesagt: ‚Das muss geändert werden! Wir müssen doch wieder dorthin zurück, wo wir herkommen.‘“ Außerdem habe er als Kind in die- sem Punkt intuitiv die tiefe „Traurigkeit der Eltern“ gespürt, die auf eine Rückkehr hoffen. Nicht ohne Folgen: „Dieses Gefühl habe ich dann auch gehabt: ‚Da muss ich wieder hin!‘“ Das führt dazu, dass das in Garzweiler geborene Nesthäk- chen eine weitaus stärkere Bindung an Pommern entwickelt, als seine dort zur Welt gekommenen älteren Geschwister. Die seien aufgrund des Altersunterschieds für ihn doch „ein biss- chen weiter weg“ gewesen. Seine familiären Bezugsgrößen sind eindeutig die Eltern. Das gilt umso mehr, als die beiden Schwestern aufgrund ihrer Eheschließungen das Elternhaus verlassen. Mit Bruder Jürgen tauscht sich Gerd in dieser Frage gar nicht aus. Entscheidend sei in dieser Phase für ihn stets das gewesen, „über was meine Eltern sich unterhalten haben“. „Irgendwie muss der Mensch sich ja finden“, bringt Gerd Bandemer diese Phase seines Lebens, in der seine Eltern als Orientierungshilfen eine herausragende Rolle spielen, auf den Punkt. Ihre Wirkungskraft verlieren sie erst dann schrittweise, als Gerd 1960 auf eine weiterführende Schule nach Mönchen- gladbach wechselt, eine Veränderung, die er rückblickend als „Cut“ bezeichnet. In Mönchengladbach seien die Verhältnisse damals schon „ganz anders“ gewesen. „Da waren die Leute schon aufgeschlossener, und da war das schon gar kein Thema mehr.“ Die kindliche und frühjugendliche Prägung behält aber zeit- lebens ihre prägende Wirkung. „Also, meine Heimat ist in Pom- mern“, lässt Gerd Bandemer keinerlei Zweifel aufkommen. Sein Zuhause sei hingegen in Jüchen, speziell der Ortsteil Hoch- neukirch, wo er seit seiner Eheschließung im Jahr 1969 lebt. Seine Hinwendung zur pommerschen Heimat der Eltern, da ist er sicher, werde von Dauer sein. „Das ist mein Gefühl.“ Zugleich lehnt er modernere Definitionen von Heimat strikt ab. „Heimat“ sei für ihn keineswegs der Ort, wo die Freunde seien. Er leitet sie aus der pommerschen Herkunft der Familie ab. „Das ist die Heimat meiner Vorfahren, also muss es zwangsläufig auch meine Heimat sein.“ Herkunft und Schicksal seiner Eltern lässt in Gerd Bandemer früh historisches Interesse wachsen. Er beschäftigt sich inten- siv mit der Geschichte des Nationalsozialismus. Hieraus zieht er den Schluss, dass trotz aller Barbarei des NS-Regimes und aller „einmaligen Verbrechen“, die in seinem Namen begangen worden seien, es nicht gerechtfertigt gewesen sei, Menschen aus ihrer angestammten Heimat zu vertreiben. „Ich kann nicht Gleiches mit Gleichem beantworten.“ Die Frage, ob er sich als Kind Vertriebener im Rheinland in- tegriert fühle, beantwortet er mit der Feststellung, dass er den Begriff „Integration“ in diesem Punkt für ungeeignet halte. „Ich brauchte mich nicht zu integrieren. Ich war Teil dessen.“ Die Flüchtlinge und Vertriebenen, so erläutert er, seien Teil des ei- genen Volkes gewesen, weshalb man nicht von Integration sprechen könne. Allerdings, so räumt er ein, hätten sich die Ankömmlinge „hier zurechtfinden“ und die Einheimischen ihren Teil dazu beitragen müssen. Das habe „sehr schnell funktio- niert“, was jedoch nicht Ergebnis alliierter Anweisungen, son- dern deutschen Organisationsgeschicks gewesen sei. Gerd Bandemer räumt ein, dass der Weg zur Akzeptanz lang und steinig gewesen sei und illustriert das mit einem kleinen Bei- spiel: Als Kind habe er anlässlich des Martinszuges den üblichen Weckmann erhalten und stolz nach Hause getragen. Auf dem Weg dorthin sei ihm ein älterer einheimischer Junge entgegen gekommen und habe seinem „Stutenkerl“ kurzerhand den Kopf abgerissen und gesagt: „So, du Flüchtling, das ist meiner!“ Er sei daher auch als am Niederrhein geborenes Kind von Ver- triebenen durchaus stigmatisiert gewesen – „das ist gar keine Frage“. Solche Vorurteile hätten dann aber schnell an Kraft und Bedeutung verloren. Rückblickend macht Gerd Bandemer einen deutlichen Un- terschied zwischen einzelnen Ortschaften aus. Die Jüchener Bevölkerung habe sich in den ersten Nachkriegsjahrzehnten – nicht nur den Vertriebenen gegenüber - stets als sehr konser- vativ und entsprechend verschlossen gezeigt, während in Hoch- neukirch Fremdem und Fremden gegenüber eine liberalere, of- fenere Atmosphäre geherrscht habe. Er führt das auf die größere Nähe der Arbeiterwohngemeinde zu Mönchenglad- bach zurück, die früher „moderneren“ Einstellungen zum Durch- bruch verholfen habe. Trotz aller Vorbehalte, so schließt er das Gespräch, halte er die Einbindung der Flüchtlinge und Vertriebenen in West- deutschland für eine „sehr gelungene Sache“, auch wenn er, der „pommersche Rheinländer“, wie Schwester Hannelore Beu- len ihn bezeichnet, seine Heimat nach wie vor in Pommern sieht. Aber ein Zuhause im Rheinland ist ja auch wichtig.

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