Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

93 AUS DEM LEBEN VON ASTRID KATTHAGEN Dietmar ist acht Jahre alt, als die Familie nach Garzweiler kommt. Am Anfang, so entsinnt er sich, sei es „etwas schwer“ gewesen zwischen den beiden Konfessionen, was insbeson- dere auch in der Schule zum Ausdruck gekommen sei. „Da hieß es dann: ‚Blauköpp!‘, ‚Du Pollack!‘“ Weil er aber ein Typ gewesen sei, der für eine derartige Behandlung „nicht groß was für gegeben“ habe, lässt er die Beschimpfungen – zumin- dest äußerlich - weitgehend an sich abtropfen. Dabei hilft ihm nicht nur der familiäre Rückhalt, sondern es gesellt sich bald ein anderer wesentlicher Faktor hinzu, der einer erfolgreichen Integration erheblich Vorschub leistet: Dietmar ist begeisterter Fußballspieler und tritt früh in den Garzweiler Fußballverein ein, wo er die negativen Begleiterscheinungen des Flüchtlingsstu- tus‘ angesichts seiner Spielstärke kaum mehr zu spüren be- kommt. „Da war das vorbei. Da hat keiner mehr gesagt ‚Du Pol- lack!‘“ Natürlich, so räumt Dietmar Kusch rückblickend ein, habe ihn die häufige Diskriminierung und Zurücksetzung außerhalb des Sportplatzes geärgert. „Aber was sollten wir machen, wir mussten uns fügen.“ Auch in der Schule hilft ihm sein sportliches Können, denn auch dort messen die katholischen Einheimischen gegen die evangelischen Flüchtlingsjungen ihre Kräfte. Die vier guten evan- gelischen Fußballer hätten die zahlenmäßig überlegenen Ka- tholiken immer besiegt. Als dann 1954 zu Beginn von Dietmars letztem Schuljahr in Garzweiler die kleine evangelische Schule eröffnet wird, erhalten die Fußballer moralische Unterstützung durch ihren Lehrer Schwengler. „Der sah das gerne, wenn wir die Katholischen abgezockt haben.“ Durch dessen gemeinsame Initiative mit Peter Giesen, dem Leiter der katholischen Volks- schule, finden solche „konfessionellen“ Spiele nun häufiger statt, wodurch etwaige Konflikte zwischen Einheimischen und Zuge- zogenen auf sportliche Art und Weise ausgetragen werden. Das gilt wohl auch für den örtlichen Turnverein, dem sich der sportbegeisterte Dietmar ebenfalls schnell anschließt. Dennoch bleiben zunächst Benachteiligungen durch Flucht und Vertreibung an der Tagesordnung. So notiert Lehrer Schwengler anlässlich der Schulentlassung von Dietmar und seiner Cousine Marlene in der Schulchronik, dass nahezu sämt- liche Schulkinder „noch unter den schweren Folgen der Nach- kriegsjahre und der Flucht“ zu leiden hätten. Von den sieben Ostern 1955 Entlassenen seien Dietmar Kusch und Marlene Eggert aus Langeböse erst mit acht Jahren eingeschult wor- den, „weil sie bis 1946 in der von Polen und Russen besetzten Heimat verbleiben mussten, aber keine Schule besuchen konn- ten, das folgende Jahr auf der Flucht verbrachten und von La- ger zu Lager geschleust wurden“. Trotz aller Anlaufschwierigkeiten als Vertriebener sieht sich Dietmar Kusch allerdings nicht nachhaltig benachteiligt. „Das Oma Rosalie Venske, Helene Kusch mit ihren drei Kindern Ingetraut, Astrid und Dietmar, um 1948/49 „Aber was sollten wir machen, wir mussten uns fügen.“ – Der Bruder Dietmar Kusch wird zwei Tage nach Beginn des Zweiten Welt- kriegs am 3. September 1939 in Langeböse geboren, hat aber nur wenig direkte Erinnerungen an seine frühe Kindheit. An einzelne Stellen im Dorf kann er sich allerdings noch gut zu- rückentsinnen. Das bemerkt er bei seinen beiden Besuchen in Langeböse nach 1989. „Beim ersten Mal, wie ich da reinkam, da wusste ich haargenau, die Straße geht dahin und die dorthin. Ich wusste, wo das Gut stand, ich wusste, wo unser Anwesen war.“ Die Örtlichkeiten haben sich damals also tief in das kind- liche Gedächtnis eingegraben.

RkJQdWJsaXNoZXIy MTI5NTQ=