Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

167 DIE RAHMENBEDINGUNGEN: PROBLEME DER AUFNAHMEREGIONEN Landarbeiter verdingen, Fachkräfte aus Handel, Handwerk und Industrie sich oft jahrelang als Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft durchschlagen.“ Die so etablierten Gegensätze bargen erheblichen sozialen Sprengstoff und sollten die westdeutsche Nachkriegsge- sellschaft insbesondere in ländlich geprägten Gebieten noch lange prägen. EinMitarbeiter der US-Militärregierung stellte imOktober 1946 fest: „Die Leute, die ammeisten verloren haben, sind jetzt in den engsten Kontakt gekommen mit den Bauern, die amwenigsten verloren haben.“ Auch deshalb kam dem oben skizzierten Aspekt von „Gesell- schaften im Strukturwandel“ eine große Bedeutung zu. Hierzu nochmals Andreas Kossert: „Den einheimischen Bauern, die in ein überschaubares und seit Generationen vertrautes, noch immer relativ geschlossenes Sozialmilieu eingebunden und durch Krieg und Niederlage nicht aus ihrem angestammten Besitz verdrängt worden waren, stand der enteignete, durch die Vertreibung aus allen gewachsenen sozialen Bezügen gerissene, stigmatisierte Hei- matlose gegenüber. Nur wenn dieser sich bereitwillig in die Gesin- derolle fügte, gestaltete sich das Zusammenleben halbwegs erträg- lich.“ 138 Damit korrelierte das Phänomen, dass insbesondere den Älteren unter den vertriebenen Bauern sehr häufig die Kraft zum Neuanfang fehlte – nicht zuletzt wohl deshalb, weil man ihren früheren Status im Westen schlicht ignorierte. Man sei sich, so analysierte damals ein Flüchtlingsbetreuer, viel zu wenig darüber im Klaren, „dass diese Ausgewiesenen, die jetzt als Knechte und Mägde beim kleinen Bauern arbeiteten, vor wenigen Jahren selbst noch sehr reiche Bauern waren“. Aus solcher Ignoranz resultierten nahezu zwangsläufig Konflikte. So gab es 1947 in Büderich bei Neuss nach einem Bericht des Gemeindedirektors wegen der Ver- triebenen „in jedem zweiten Haus Streit“, weil sie sich von den alt- eingesessenen Bauern wie „Sklavenarbeiter“ behandelt fühlten. Auch andere Beobachter berichteten, dass „die Ankommenden wie Sklaven von den Bauern auf ihre Leistung taxiert“ würden. 139 Unter solchen Prämissen kann es nicht überraschen, dass noch 1949 in der Bizone 60 Prozent der Einheimischen und 90 Prozent der Vertriebenen der Auffassung waren, dass das Verhältnis zwischen Alt- und Neubürgern „schlecht“ sei. 140 Dabei waren viele Neuan- kömmlinge davon überzeugt, von der eingesessenen Bevölkerung nicht als gleichberechtigte Deutsche akzeptiert, sondern „für Men- schen geringerenWertes, für Fremde oder Unheil bringende Bettler“ gehalten zu werden. Tatsächlich lautete ein weitverbreitetes Urteil: „Die Flüchtlinge sind grundsätzlich schmutzig. Sie sind grundsätz- lich primitiv, ja sie sind sogar grundsätzlich unehrlich. Dass sie faul sind, versteht sich am Rande und dass sie lieber einen braven Ein- heimischen betrügen, als ihm eine Arbeit abzunehmen.“ Solche Dif- famierungen wurden keineswegs nur intern oder hinter vorgehal- tener Hand geäußert. Die hier zitierte Passage wurde imApril 1949 in der Rhein-Neckar-Zeitung abgedruckt! Natürlich erfuhren Flüchtlinge und Vertriebene imWesten auch mitmenschliche Zuwendung und Nachbarschaftshilfe, wovon mit Blick auf Jüchen an anderer Stelle noch einige Beispiele präsentiert werden. Zumindest in den ersten Nachkriegsjahren dominierten aber ganz eindeutig negative Erfahrungen, die sich im folgenden Bild widerspiegeln, das die Erinnerungen zahlreicher Ankömmlinge aus dem Osten dauerhaft prägte: Die Flüchtlingsfrau mit ihren Kindern, die nach der Ankunft verzweifelt von einem Bauernhof zum nächsten weitergeschickt wird, weil sie niemand aufnehmen will, bis dann schließlich ein Bürgermeister sich erbarmt und sie mit Zwang bei einem unwilligen Einheimischen einquartiert. 141 Dabei sollte keineswegs vergessen werden, dass die von Flucht und Vertreibung Betroffenen oftmals noch in anderer Hinsicht stark unter Kriegsfolgen zu leiden hatten. Das Fehlen des Ehemanns und Vaters aufgrund von Tod oder Gefangenschaft erschwerte den Familien neben den ohnehin schon destabilisierenden Faktoren der räumlichen Enge, katastrophalen Ernährungslage und/oder miserablen hygienischen Bedingungen das Einfinden in der neuen „Heimat“. Eine niedersächsische Untersuchung ergab, dass nur 43 Prozent der befragten Schüler in Vertriebenenhaushalten „voll- ständigen“ Familien entstammten, während sich der Prozentsatz bei einheimischen Kindern auf 73 Prozent belief. 142 Unter den hier nur knapp skizzierten Umständen blieb West- deutschland den Vertriebenen noch lange eine „kalte Heimat“ und deren Aufnahme und Integration laut der Zeitung „Das Parlament“ auch 1949 weiterhin „Deutschlands Frage Nr. 1“. Zu diesem Zeit- punkt war längst noch nicht klar, ob und wie das Problem zu ent- schärfen sei, aber immerhin bestand Einigkeit darin, dass dies so schnell wie möglich geschehen müsse. 143 Denn so viel war den Ver- antwortlichen längst klar geworden: Die ursprüngliche Skepsis war in dem Maße in offene Ablehnung umgeschlagen, wie sich immer deutlicher abzeichnete, dass es sich bei den Flüchtlingen und Ver- triebenen nicht um Gäste, sondern umNeubürger handelte. KONKURRENZEN Es waren aber keinesfalls die Flüchtlinge und Vertriebenen allein, die die Aufnahmeregionen vor große Probleme stellten, sondern es gab im Rahmen der „Völkerwanderung“ der Kriegs- und Nach- kriegszeit zahlreiche Gruppen, die mit ihren Bedürfnissen unter- einander konkurrierten. Sie alle durften nach dem Krieg nur mit erheblichen Verzögerungen in ihre Herkunftsorte zurückkehren und waren daher an jenen Orten, in die es sie verschlagen hatte, zu versorgen. Das führte angesichts der anschwellendenWelle von zu- sätzlichen Neuankömmlingen aus dem Osten zwangsläufig zu Konkurrenzen und Konflikten. 144 Außerdem hatten auch viele Ein- heimische unter Kriegsfolgen zu leiden, was dazu führte, dass in den Westzonen mehrere „Elendsfronten“ aufeinanderprallten, deren Zustand sich durch Versorgungsengpässe dramatisch ver- schärfen und Solidarität zu einem äußerst raren Gut werden lassen sollten. 145 In der frühen Nachkriegszeit waren folgende unterei- nander konkurrierenden Gruppierungen auszumachen: 146

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