Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

168 DIE RAHMENBEDINGUNGEN: PROBLEME DER AUFNAHMEREGIONEN Evakuierte Aus den durch Bombardierungen gefährdeten deutschen Gemein- den waren seit 1943 zwischen 9 und 10Millionen Personen, über- wiegend Frauen und Kinder, evakuiert worden. Noch am 1. April 1947 gab es unter der 65,9 Millionen zählenden Gesamtbevölke- rung der vier Besatzungszonen 3,1Millionen (4,7 Prozent) Evaku- ierte. Kriegsgefangene und Kriegsheimkehrer Eine unbekannte Zahl ehemaliger Soldaten schlug sich teilweise ohne, teilweise mit „regulären“ Entlassungspapieren nach Hause durch und mindestens 6 bis 7 Millionen gerieten in Gefangen- schaft; manche Schätzungen sprechen sogar von 11,7 Millionen. Die meisten Kriegsheimkehrer wurden in den Jahren zwischen 1946 und 1949 registriert. Weil zunächst vor allem Kranke und Gebrechliche entlassen wurden, waren 1946 lediglich 16 Prozent der Entlassenen arbeitsfähig. Kriegsversehrte Rund 2 Millionen Soldaten und Zivilpersonen kehrten oft schwer geschädigt als „Kriegsversehrte“ mit Verwundetentransporten zu- rück. Sie mussten sich nicht nur in extrem schwieriger Zeit behaup- ten, sondern auch mit dem Bewusstsein leben lernen, dass ihre Zukunft stark beeinträchtigt sein würde. Kriegerwitwen In vielen Familien mussten die zu Kriegerwitwen gewordenen Frauen ihre Kinder allein durchbringen. Andere hofften auf Nach- richt vom vermissten Mann und hatten oft zu entscheiden, ob sie unbestimmte Zeit warten oder ihn für tot erklären lassen sollten. Insgesamt soll es 1,5 bis 2 Millionen Kriegerwitwen in Deutsch- land gegeben haben. Ihre Zahl betrug im Westen Deutschlands 1960 noch 1,1 Millionen, die der Waisen 500.000 und die der El- tern, deren Sohn oder Söhne gefallen waren, 200.000. Flüchtlinge und Vertriebene Erzwungenermaßen „unterwegs“ waren vor allem die Flüchtlinge und Vertriebenen: Zwischen 11 und 14MillionenMenschen sollen um das Ende des ZweitenWeltkrieges vor der Roten Armee geflo- hen oder aufgrund von Vereinbarungen zwischen der UdSSR und Polen bzw. nach Artikel 13 des Potsdamer Abkommens vom 2. Au- gust 1945 aus- oder umgesiedelt worden sein. Displaced persons Ihre Zahl soll bei Kriegsende zwischen 9 und 11Millionen gelegen haben, darunter allein 2,4Millionen aus der Sowjetunion, 2,1Mil- lionen aus Frankreich, 1,5Millionen aus Polen und knapp 1,2Mil- lionen aus dem Baltikum. Auch im Frühjahr 1947 hielten sich noch immer knapp eine Million dieser DPs in den vier Besatzungs- zonen auf. Somit hatten sich zwischen 1945 und 1947 rund 9Mil- lionen ehemalige Zwangsarbeiter in Richtung Heimat bewegt, während aus anderer Richtung im gleichen Zeitraum eine ähnlich große Zahl von Flüchtlingen und Vertriebenen in den Westen ge- kommen waren. Und unter all diesen Gruppen, die für sich jeweils mit guten Gründen materielle und ideelle Unterstützung reklamierten, wur- den die Geflohenen und Vertriebenen sehr bald zu einer neuen gesellschaftlichen Unterschicht. 147 Sie hatten die wenigsten Für- sprecher auf ihrer Seite, keinerlei „Lobby“ unter den Einheimischen und auch kaumUnterstützer bei den alliierten Besatzern. Bezeich- nenderweise waren dabei die Differenzen zu jenen am größten, die über Besitz verfügten und nun befürchteten, etwas zu verlieren. Am niedrigsten waren die Schwellen dagegen zwischen Vertriebe- nen und dörflichen Randgruppen, denen es leichter fiel, sich den Neuankömmlingen gegenüber solidarisch zu zeigen und ihnen oft uneigennützige Hilfe zuteilwerden zu lassen. Geholfen, das hörte und hört man bis heute in diesem Kontext immer wieder, hätten „nur die kleinen Leute“. 148 Eine in dieser Hinsicht wohl typische und unter anderem am Beispiel von Elisabeth Schütte auch für Jüchen nachgewiesene „Verlaufsgeschichte“ ist aus Ostfriesland überliefert, wo eine ge- flohene Frau mit ihrer Schwester und deren kleinen Sohn bei einem Kleinbauern unterkam. Sie erinnert sich: „Die hatten nur eine kleine Wirtschaft, zwei, drei Kühe. Platz war da eigentlich nicht. Die mussten ihre beste Stube für uns räumen. Da waren dann meine Schwester mit ihrem Jungen und ich. Später kam noch mein Schwager, der in Hamburg aus der Gefangenschaft entlassen wor- den war. Da haben wir zu viert in dem schmalen Bett geschlafen. Aus rohem Holz wurde von einem Tischler auf Kosten der Ge- meinde ein halber Sarg zusammengeschlagen, der als Bett diente. Das waren schwere Zeiten am Anfang. Die Aufnahme im Dorf war nicht gut. Die Bauern hatten ja auch nicht viel. Die großen gaben Geld und brauchten keine zu nehmen, bei den kleinen da wurden sie reingeschubst.“ 149 Insgesamt warenMillionen vonMenschen in der Endphase des Krieges und unmittelbar nach dessen Ende „unterwegs“ und muss- ten bittere „Entwurzelungserfahrungen“ machen und anschließend verarbeiten. Dabei galt es, sich in einer durcheinandergewirbelten und oftmals völlig fremden Gesellschaft zurechtfinden. Hierin er- blicken Alexander von Plato und Almut Leh „wesentliche und erst auf den zweiten Blick erkennbare Ursachen“ für die in ihren Augen „imGroßen und Ganzen gelungene ‚Zusammenfindung‘“ zwischen Einheimischen und Flüchtlingen in beiden TeilenDeutschlands“. 150 Ungeachtet einer solch positiv konnotierten These sind aber bereits „auf den ersten Blick“ zahlreiche Ursachen auszumachen, die allen Beteiligten das Leben damals schwer machten. Die wich- tigsten dieser Aspekte gilt es kurz näher zu beleuchten.

RkJQdWJsaXNoZXIy MTI5NTQ=