Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

169 DIE RAHMENBEDINGUNGEN: PROBLEME DER AUFNAHMEREGIONEN UNTERBRINGUNG UND VERSORGUNG Das augenfälligste Problem war jenes der Unterbringung der immer zahlreicher nachWesten strömendenMenschen. Dabei tra- fen zwei jeweils für sich allein schon problematische Entwicklun- gen aufeinander und verdichteten sich zu einer Notlage, die jahrelang die öffentliche Wahrnehmung des Phänomens „Flucht und Vertreibung“ bestimmen sollte: Während die Bevölkerungs- zahlen in den westlichen Regionen durch Zuwanderungen erheb- lich anstiegen, sahen sich viele - auch kleinere - Kommunen mit Kriegsschäden konfrontiert, die den verfügbaren Wohnraum ver- ringert hatten. Und selbst da, wo die alliierten Bomben keine Spu- ren hinterlassen hatten, war kriegsbedingt seit Jahren nicht gebaut 151 oder zumindest nicht modernisiert worden. Hierzu un- tenstehend einige Zahlen. Ohne an dieser Stelle bereits näher auf die Wohnungspolitik der frühen Nachkriegszeit einzugehen, belegen die Zahlen in aller Deutlichkeit die Diskrepanz zwischen verfügbarem und erforder- lichemWohnraum. 2,34MillionenWohnungen galten für das Ge- biet der späteren Bundesrepublik als zerstört, und für die Unter- bringung der aus dem Osten und der SBZ in den Westen strömendenMenschen wurden weitere rund 2,4MillionenWohn- einheiten benötigt. Ende 1950 hatte sich der bundesrepublikani- sche Fehlbedarf bei einemBestand von 9,4Millionen existierenden Wohnungen auf 5,9 Millionen erhöht, was bedeutete, dass von den insgesamt 15,4 Millionen Haushalten selbst zu diesem Zeit- punkt über 38 Prozent noch ohne eigene Wohnung waren. 153 Dieses nackte Zahlenwerk sagt jedoch wenig über die Miss- und Notstände aus, die sich oftmals hinter ihm verbargen. Das galt ganz besonders für die zahlreichen „Notunterkünfte“, die in Massenlagern, Baracken, Bunkern und Kellern eingerichtet wurden und in denen Flüchtlinge und Vertriebene oft über Jahre hinaus leben mussten. 1947 wohnten 5,7 Prozent der nordrhein-westfäli- schen Gesamtbevölkerung in solchen Notunterkünften, ein Jahr später waren es schon 6,8 Prozent. 154 Daher verwundert es nicht, dass der „Homo barackensis“ – der Barackenbewohner – zur Sym- bolfigur der ersten Nachkriegsjahre wurde, in denen das Lager mit seinen inakzeptablen Lebensbedingungen dann zur „Brutstätte des Nihilismus“ erklärt wurde. 155 Angesichts der dort oftmals herrschenden Zustände konnte das nicht verwundern. Im bergischen Remscheid etwa kritisierten im Jahr 1949 einige Stadtverordnete die katastrophalen Zustände in den lokalen „Elendsquartieren“. Es sei nicht länger hinnehmbar, dass „anständige Menschen“ unter Verhältnissen wohnen müssten, „die dem Schweinestall beim Bauern tatsächlich nahestehen“. Ein daraufhin angefertigter Prüfungsbericht der Stadt hielt fest: „Die Leute waren resigniert und teilweise der Verzweiflung nahe, wenn 17.5.1939 13.9.1950 31.12.1960 Wohnbevölkerung (Bundesgebiet) 39.337.500 47.695.700 52.696.000 Veränderung (in %) +21,2% + 10,5% Wohnbevölkerung (NRW) 11.935.331 13.197.009 15.852.476 Veränderung (in %) + 10,6% + 20,1% Räume in NRW 12.833.000 10.277.810 16.317.9160 Veränderung (in %) - 20,6% + 70,3% Personen je Wohnung in NRW 3,56 4,96 3,50 Personen je Raum in NRW 0,93 1,28 0,97 Gemeinschaftstoiletten im Flüchtlingslager Eselsheide, Februar 1948 WOHNUNGSVERSORGUNG IN NRW 1939-1960 152

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