Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

sie sahen, dass sie ihr Leben in solchen Wohnverhältnissen ver- schleißen sollten. Man kann über die letzten Baracken das Wort schreiben: ‚Wer hier einzieht, lasse alle Hoffnung fallen, jemals wie- der herauszukommen’.“ Die unhaltbaren Zustände in den Baracken, so hieß es weiter, würden dazu verleiteten, deren Bewohner mit Menschen auf niedrigstem gesellschaftlichenNiveau gleichzusetzen, wobei dabei genau jene Verhaltensweisen kritisiert würden, die das Lager doch erst hervorbringe. Ein Stadtrat meinte, „dass man den Barackenbewohnern einen Brandstempel aufgedrückt“ habe. 156 Nicht nur die physischen 157 , sondern vor allem die psychischen Folgen waren für alle Lagerbewohner extrem belastend: Es gab praktisch keinerlei Privatsphäre, hausten – zumindest anfangs - doch oft hundert Menschen in einem nur notdürftig mit Decken aufgeteilten Raum. Durch die zwangsläufige Gemeinschaftsver- pflegung, durch Gemeinschaftswaschräume und weitere Gemein- schaftseinrichtungen verloren die so Untergebrachten zusehends ihre Eigeninitiative und stumpften – wie am Beispiel Remscheids gezeigt - ab. 158 Wenn solche Beispiele und die überlieferten Fotos von Nissen- hütten und Barackenunterkünften einen solchen Schluss auch na- helegen, so lag das größte Problem ungeeigneter Unterbringung in den ersten Nachkriegsjahren eher auf anderem Gebiet. Eine im Oktober 1946 in Baden-Württemberg durchgeführte Wohnungs- zählung kam zu dem Ergebnis, dass die aktuelle Wohnsituation insbesondere durch zwei negative Faktoren gekennzeichnet sei: die Unterbringung in „Notwohnungen“ unterschiedlichster Art sowie die Überbelegung von Normalwohnungen, die die Verant- wortlichen als die eigentliche Ursache der Notlage ausmachten. Von den in Baden-Württemberg gezählten 774.927 bewohnbaren Unterkünften waren lediglich 58,7 Prozent mit nur einemHaushalt oder einer Familie belegt und 15,2 Prozent mit einem Haushalt und einemUntermieter. In immerhin 18,5 Prozent der Unterkünfte teilten sich zwei Haushalte eineWohnung, in 3,9 Prozent gar zwei Haushalte und ein zusätzlicher Untermieter, während in erschre- ckenden 3,7 Prozent der Fälle eine Wohnung mit drei und mehr Haushalten belegt war. 159 Diese Überbelegung privatenWohnraums resultierte aber nicht etwa aus solidarischem Handeln Einheimischer, sondern musste in aller Regel gegen deren massiven Protest durchgesetzt werden. So wurde bereits Ende September 1945 - also vor dem Einsetzen der großen Flüchtlingswellen - aus Remscheid gemeldet, dass die Bevölkerung „einen hartenWiderstand“ gegen solche Belegungen 170 DIE RAHMENBEDINGUNGEN: PROBLEME DER AUFNAHMEREGIONEN Jugendliche vor Nissenhütten für Flüchtlinge im westfälischen Selm, einer „Stadt in Not“, November 1950

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