Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

215 DIE NACHKRIEGSZEIT IN JÜCHEN Irmgard Coenen kann sich noch gut darin erinnern, dass wäh- rend des Krieges polnische und russische Frauen in den örtli- chen Textilfabriken arbeiteten. Zwar hätten die Jüchener Kinder keinerlei Kontakt zu den Zwangsarbeiterinnen gehabt, „aber wir sahen diese Mädchen, wie sie in der Fabrik auch lebten“. Durch Kleidung und Verhalten hätten die Kinder instinktiv be- merkt: „Sie waren schon andere Personen.“ Dann kommt der Einmarsch der US-Armee: „Diese Leute waren mit dem 28. Februar nicht mehr Zwangsarbeiterinnen, sondern freie Menschen.“ Das bringt eine erhebliche Verschie- bung der Autoritäten mit sich: „Sie nahmen nun die Stelle ein, die zuvor ihr Arbeitgeber eingenommen hatte. Sie vertrieben ihn aus dem Haus und nahmen sein Haus teilweise in Besitz.“ Auch die Familie ihrer Freundin, vermögende Fabrikbesitzer, muss ihre hochherrschaftliche Villa verlassen und kommt in ei- nem kleinen Zimmerchen in der elterlichen Wohnung von Irm- gard Coenens späterem Ehemann unter. „Sie haben hier mit mehreren Familienangehörigen äußerst einfach gelebt.“ Dieses Schicksal der Zwangsausweisung hätten damals viele Bewoh- ner der Kölner Straße teilen müssen. Die Freude der ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter über ihre Befreiung paart sich mit Wut und fin- det ihren Ausdruck in oft von Zerstörungswillen begleitetem Aktionismus. „Das haben wir als Kinder gesehen: Sie warfen Möbel aus den Fenstern.“ Ob das aus Rache geschehen sei oder einfach, weil man für so viele Leute habe Platz schaffen müssen, könne sie nicht beurteilen, erzählt Irmgard Coenen und betont, eine solche Aktion nur einmal selbst beobachtet zu haben. „Aber das hat uns als Kinder schon sehr erschüt- tert.“ Auch in ihr Elternhaus wird für kurze Zeit eine Familie mit zwei Töchtern eingewiesen, die ihre Wohnung in der Steinstraße verlassen muss. „Wir haben die Leute nicht so unwahrscheinlich freundlich aufgenommen“, umreißt Irmgard Coenen selbstkri- tisch die damalige Grundstimmung im Ort. Man habe nicht etwa miteinander Kaffee getrunken oder sich freundlich unterhalten. „Das war schon eine Zwangseinweisung“, betont sie. Angesprochen auf das Verhalten der befreiten Zwangsar- beiterinnen und Zwangsarbeiter erinnert sie sich insbesondere an die völlige Plünderung der Gärten, über die die meisten Häu- ser am Jüchener Markt damals verfügt hätten. Durch die un- mittelbare Nachbarschaft zur Kölner Straße sei nachts aus den Gärten „alles, was nicht niet- und nagelfest“ gewesen sei, ge- raubt worden. Es habe damals eine allgemeine Angst sowohl von Kindern als auch von Erwachsenen vor Übergriffen durch Polen geherrscht, erzählt Irmgard Coenen weiter. Die sei ins- besondere aus der Kenntnis von mehreren Todesfällen erwach- sen, die es in der Jüchener Gegend im Zuge nächtlicher Über- fälle gegeben habe. Auch Hubert Knabben kann sich gut erinnern, dass die Häu- ser der Kölner und Neußer Straße sowie der Friedhofstraße mit polnischen Zwangsarbeitern belegt gewesen seien. Die in ihrer übergroßen Mehrheit katholischen Polen hätten jeden Sonntagmorgen einen „großen Umzug“ von der Kölner Straße zur Kirche veranstaltet, dabei die polnische Nationalhymne ge- sungen und anschließend die Messe besucht. Es seien ver- schiedentlich auch Fußballspiele zwischen den DPs und Viktoria 09 Jüchen ausgetragen worden. Solche Veranstaltungen können aber nicht über die „großen Spannungen“ hinwegtäuschen, die den Ort wegen des „Polen- lagers“ beherrschen. Das betrifft nicht zuletzt deren Umgang mit dem fremden Eigentum, das sie bewohnen. Wenn beispiels- weise im Winter Brennmaterial gefehlt habe, so erzählt Hubert Knabben, seien in den Häusern einfach die Treppenländer ab- montiert und verheizt worden. „Alles, was brennbar war, wurde verbrannt.“ Auch an die „Raubzüge“ der ehemaligen Zwangsarbeiter, die ja tatsächlich wenig zu essen gehabt hätten, kann er sich erinnern. Dabei seien etwa in Priesterath eine Bäuerin und deren Tochter ums Leben gekommen, als die Polen, nachdem ihnen Unterstützung verweigert worden war, Handgranaten ins Haus geworfen hätten. Nachdem die Militärregierung, um der Lage Herr zu werden, die Sichtschutz gebenden Hecken weg- gebaggert hätte, sei es vereinzelt sogar vorgekommen, dass Amerikaner auf Polen und Polen auf Amerikaner geschossen hätten. „Das war keine schöne Sache“, fasst Hubert Knabben die damaligen Konflikte zusammen. DIE NACHKRIEGSZEIT IN JÜCHEN AUS DER SICHT VON ZEITZEUGEN – TEIL 3 Polenlager

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