Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

217 DIE NACHKRIEGSZEIT IN JÜCHEN tenen Schokoladenstücken durchaus nicht nein. – Eben ein wohl typisches Kinder- und Jugendleben unter Besatzung. Die Stimmung in der unmittelbaren Nachkriegszeit, so Irm- gard Coenen, sei „eigentlich nicht schlecht“ gewesen. Für sie und einige gleichaltrige Kinder gibt es jedoch bald einen Wer- mutstropfen: „Zu meinem Leidwesen hatte sich ein Lehrer aus Jüchen bereiterklärt, die Schüler, die Lust hätten, privat wieder zu unterrichten.“ Nur zu gern nimmt Irmgards Mutter dieses Angebot an, froh darüber, dass ihre Tochter von der Straße wegkommt und ihr nach langer Unterbrechung wieder Unter- richt erteilt wird. Zehn bis 15 Kinder bzw. deren Eltern nehmen das großzügige Angebot an und werden nach den Wirren der Kriegsendphase über Geschlechter- und Konfessionsgrenzen hinweg wieder mit der Schule vertraut gemacht – lange bevor diese im Herbst 1945 wieder offiziell ihre Pforten öffnen wird. Versorgungsengpässe Bestimmender und wichtiger als schulische Probleme sind in jenen ersten Nachkriegsjahren aber eindeutig die Fragen, die um die Sicherung der eigenen Lebensgrundlage, sprich in erster Linie die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Hausbrand krei- sen. Dabei geht es, wie etwa im Falle von Irmgard Krapohl, nicht nur um die Sicherung des eigenen Überlebens, sondern auch um die Unterstützung von ausgebombten Verwandten und Bekannten aus den umliegenden Großstädten, vor allem aus Rheydt und Mönchengladbach. „Die mussten wir hier in Jüchen aus den Erträgen unseres Gartens oder aus dem, was mein Vater inzwischen wieder durch Tausch ‚organisierte‘, mit unterhalten. Die hatten effektiv keine anderen Möglichkeiten an Nahrungsmittel zu kommen.“ Daher habe man „ständig“ Be- such von den städtischen Verwandten gehabt, die es dann durchzufüttern gilt. Auch das geschieht zumeist nicht ohne Ge- genleistung, sondern in Form unterschiedlichster Tauschge- schäfte, in deren Rahmen jeder gibt, was er hat oder kann. „Da kam eine Tante, die strickte für uns“, erinnert sich Irmgard Coe- nen an solche Gegenleistungen, „die andere Tante kam und bügelte den ganzen Tag. Das waren so Gegenleistungen für Lebensmittel.“ Hubert Knabben erlebt die unmittelbare Nachkriegszeit in seiner Familie sehr ähnlich. Auch die Knabbens haben zahlreiche Verwandte in Mönchengladbach, die „zu gegebener Zeit“ bereits während des Krieges, verstärkt dann nach dessen Ende immer wieder in Jüchen auftauchen. „Die luden sich dann ein und hoff- ten, von uns etwas zu bekommen, wenn wir etwas hatten.“ Es sind aber nicht nur die Engpässe an Nahrungsmitteln, die den Alltag der ersten Nachkriegsjahre bestimmen. Irmgard Coenen erinnert sich beispielsweise noch gut an die improvi- sierten Schuhe aus Teilen von Gummireifen: „Und das fanden wir toll.“ Schön seien diese Schuhe beileibe nicht gewesen, „aber sie nutzten uns“. Sie kann sich allerdings nicht erinnern, dass Kinder wegen fehlender Nahrung, Kleidung, Schuhwerk oder Schulmaterialien den Unterricht nicht hätten besuchen können. Schulhefte habe ohnehin niemand besessen - „die machten wir uns aus alten Tapetenbüchern“ –, und auch sonst sei viel improvisiert worden. Sie glaube, dass es insbesondere der damalige evangelische Pastor Haarbeck gewesen sei, der für die entsprechende Unterstützung von bedürftigen Familien gesorgt habe, was dann später ganz besonders den Flüchtlin- gen und Vertriebenen zugutegekommen sei. In den von schlechter Ernte, kalten Wintern, Überschwem- mungen und anderen Widrigkeiten der Natur geprägten Jahren 1946/47 geht es aber auch den alteingesessenen Jüchenern schlechter. Daran erinnert sich jedenfalls Hubert Knabben sehr deutlich, denn in seinem Elternhaus gibt es in dieser Hinsicht einen zuverlässigen Gradmesser. Sein Vater arbeitet als Ma- lermeister häufig auf Bauernhöfen, wo seine Arbeit oft in Na- turalien entlohnt wird. Ist etwa ein Wohnzimmer gestrichen, er- hält er ein sechs Wochen altes Ferkel, das die Knabbens dann mästen und später schlachten. Solche für beide Seiten lukrati- ven Tauschgeschäfte seien 1947 dann plötzlich nicht mehr möglich gewesen. „Da sagte der Bauer: ‚Ich habe das selbst nicht mehr.‘“ Durch den Wegfall dieser Form der Entlohnung sei der Lebensstandard im Elternhaus bis zur Währungsreform im Juni 1948 erheblich gesunken. Statt Fleisch oder Speck kommt in dieser Zeit dann die berüchtigte „Vollmilchwasser- suppe“ auf den Tisch. „Bis 1948 dann die ‚Währung‘ kam; dann ging es ja langsam wieder nach oben.“

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