Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

218 VOR ORT: JÜCHEN NACH 1945 LEBEN UNTER DER BESATZUNG – VERWALTUNG, POLITIK, KULTUR „Endlich ruhen in ganz Deutschland dieWaffen! Die Reste unserer Armee haben bedingungslos kapituliert. Wir sind ein geschlagenes, tief gedemütigtes Volk. Dennoch geht ein Aufatmen auch durch unser Dorf: ‚Das Blutvergießen hat nun endgültig ein Ende!‘“ 258 Dieser Eintrag in der Chronik der katholischen Volksschule Gie- rath signalisiert Ende und Anfang zugleich: Das Ende eines bruta- len Krieges, den viele Deutsche vielleicht nicht gewollt, die meisten jedoch bereitwillig mitgetragen hatten und der in eine „bedin- gungslose Kapitulation“ und den Einmarsch der Sieger gemündet war. Die Besatzungsmächte beherrschten nun ein weitgehend zer- störtes Land, von dem im Frühjahr 1945 sicherlich niemand so recht wusste, wie sich dessen Zukunft gestalten würde. Dass es in vielen Punkten einen Neuanfang geben musste, war hingegen klar und weithin sichtbar. Kommunalverwaltung Diese Notwendigkeit zeigte sich zunächst sehr konkret in nahezu jedemGemeinwesen. Die bis dahin Verantwortlichen, die in ihrer Mehrheit bis zum Schluss vom „Endsieg“ lamentiert hatten, waren oft über Nacht verschwunden, und jene, die vor Ort geblieben waren, kamen für die Bewältigung der sich allerorten himmelhoch auftürmenden Wiederaufbauarbeiten nicht in Frage. Sie wurden von Teilen der Bevölkerung, insbesondere aber von den Sieger- mächten abgelehnt, die ihre Arbeit im besetzten Deutschland mit dem Anspruch einer umfassenden Entnazifizierung antraten, die im Laufe der Monate und Jahre angesichts des großen Bedarfs an Fachkräften allerdings immer stärker abgeschwächt wurde. 259 Zu- nächst taten sich aber große personelle Lücken auf, die es schnellst- möglich und oftmals eher schlecht als recht zu schließen galt, um in den Städten und Dörfern überhaupt wieder ein halbwegs gere- geltes Leben in Gang zu bringen. Einen geradezu „klassischen“ Fall für eine solche Konstellation stellte Jüchen dar. 260 Beim Einmarsch der Amerikaner am 28. Feb- ruar 1945 war der Ort ausweislich der Gemeindechronik „ohne Verwaltungsleitung“: „Amtsbürgermeister Neuß war tags zuvor ins Rechtsrheinische geflüchtet, so dass Amtsoberinspektor Caspers von der im Rathaus residierenden Militärregierung in dieses Amt eingesetzt wurde.“ Es blieb in personeller Hinsicht eine Zeit der Improvisation. Die Jüchener Gemeindeverwaltung sah sich in den folgenden Monaten und Jahren mit immer neuen Wechseln kon- frontiert, die eine Kontinuität in der ohnehin mehr als schweren Arbeit kaum zuließen. Am 23. Mai 1945 wurde Caspers zunächst von Altbürgermeister Evertz ersetzt, der aber bereits Ende Juli des Jahres wegen gesundheitlicher Probleme den Antrag auf Versetzung in den Ruhestand stellte. Am 11. Juli folgte ihm der ebenfalls schon recht betagte Albert Granderath, der in Weimarer Zeiten bereits Bürgermeister in Zons und Willich gewesen war, wo ihn die Na- tionalsozialisten 1934 aus dem Amt entfernt hatten. 261 Auch er wurde daher bereits am 15. Februar 1946 wegen „Überalterung“ von Dr. Hubert Lesaar abgelöst, der zwar weitaus jünger, aber ge- sundheitlich erheblich angeschlagen war, so dass der Posten des Amtsbürgermeisters bereits Ende Dezember 1947 wieder vakant wurde. Daher übernahm am 31. Dezember 1947 der frühere kauf- männische Angestellte Hans Königs stellvertretend die Leitung der Gemeindeverwaltung, wobei die eigentliche Arbeit laut Ge- meindechronik aber fast ausschließlich auf den Schultern von Amtsinspektor Schillings lastete, „der als einziger Beamter nach dem 28. Februar 1945 im Dienst verblieben“ war. Alle anderen früheren Angehörigen der Amts- und Gemeindeverwaltung waren entweder politisch zu stark belastet, befanden sich noch in Kriegs- gefangenschaft oder waren zu alt bzw. erkrankt. Auch Überprü- fungen im Rahmen des langwierigen Entnazifizierungsprozesses konnten personelle Wechsel nach sich ziehen. So musste der am 28. Mai 1946 in das Amt des Amtsbürgermeisters eingeführte Landwirt Albert Deußen dieses auf Anweisung der Militärregierung bereits am 8. Juli des Jahres wieder räumen - vermutlich wegen sei- ner früheren Zugehörigkeit zum rechtsgerichteten, aber keineswegs nationalsozialistischen „Stahlhelm“. Ihm folgte nach einer Vakanz von immerhin rund zweieinhalbMonaten am 23. September 1946 der Steuerberater Wilhelm Schiffer. Es dauerte schließlich bis zum 5. Dezember 1949, ehe mit dem früheren AmtsobersekretärWalter Alwicher aus rund 100 Bewerbern wieder ein Amtsdirektor gewählt wurde, der die Jüchener Verhältnisse tatsächlich kannte, weil er seit 1926 in der Gemeindeverwaltung tätig gewesen war, und um- gehend seine Absicht bekundete, ein Hauptproblem der Nach- kriegszeit grundlegend anzugehen: „Allwicher betrachtete es als seine Hauptaufgabe, den sozialenWohnungsbau zu fördern, damit sowohl für die Einheimischen als auch für die Flüchtlinge erträg- liche Verhältnisse geschaffen werden.“ Dieser der Gemeindechronik entnommene Abriss führt deutlich vor Augen, dass es um die personelle Besetzung und damit letztlich um die Qualität der Jüchener Verwaltung während des Interims der alliierten Besatzung nicht eben zum Besten bestellt gewesen sein dürfte. Das war nicht zwangsläufig dem fehlendenWillen der Beteiligten, sondern weit mehr der Tatsache geschuldet, dass ei- nerseits stets Verwaltungsfachkräfte fehlten und andererseits jene, die an Ort und Stelle ihre Arbeit taten, hierfür aufgrund ihrer Qualifikation oder ihres Alters nicht eben ideal geeignet waren. Aber gerade in einer von Neuaufbau, Versorgungsengpässen und permanenter Improvisation gekennzeichneten Zeit, deren ohnehin kaum zu bewältigenden Probleme ab spätestens Mitte 1946 durch die herannahenden Wellen an Flüchtlingen und Vertriebenen po- tenziert wurden, wäre erfahrenes und ausreichendes Personal eine der zentralen Voraussetzungen für eine halbwegs effizient arbei- tende Verwaltung gewesen. Stattdessen klafften empfindliche Lü- cken, deren oft gravierenden Auswirkungen uns hier noch häufiger

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