Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

262 VOR ORT: FLÜCHTLINGE IN JÜCHEN Am 12. Oktober 1945 leitete die Grevenbroicher Kreisverwal- tung diese Aufforderung an die Kommunen weiter und forderte sie angesichts des „in kurzer Zeit“ zu erwartenden „Massenzu- stroms“ zur Beschlagnahmung und Berichterstattung auf. Sowohl dieWarnung als auch die Aufforderung zum umgehendenHandeln wurden in den Dörfern des Kreises offenbar nicht ernst genug ge- nommen, denn am 30. Oktober sah sich der Landrat erneut ver- anlasst, die Kommunen auf das ihnen Bevorstehende aufmerksam zu machen. Das bis dahin augenscheinlich nahezu gänzliche Aus- bleiben entsprechender Reaktionen, so warnte die Kreisverwaltung, würde zeigen, „dass sich die Herren Bürgermeister über die Aus- maße des zu erwartenden Flüchtlingszustroms nicht klar“ seien. Durch den Zuzug von rund zwei Millionen Menschen werde der „gesamteWohnungs- und Ernährungsplan“ der Nordrheinprovinz schlicht „über denHaufen geworfen“. „Wenn ein Chaos vermieden werden soll, muss der letzte Raum, der für Massenquartiere in Frage kommen kann, bereitgestellt werden.“ Hierbei könne auch auf bisherige Zweckzuweisungen – etwa Säle für Kinovorführungen – keinerlei Rücksicht genommen werden. Weil die bis Ende Ok- tober in Grevenbroich eingegangenen Quartieranmeldungen der Bürgermeister offenbar gegen Null tendierten, sah sich Landrat Gilka gezwungen, den Gemeinden „einschneidende Maßnahmen“ anzudrohen, deren Folgen „den augenblicklichen Wohnraum er- heblich beschränken würden“. 384 Ob diese zweite und sehr nachdrückliche Aufforderung in den Orten tatsächlich die skizzierten Aktivitäten nach sich zog, ist den verfügbaren, allerdings wohl bei Weitem nicht vollständigen Quel- len für die Dörfer der heutigen Gemeinde Jüchen leider nicht zu entnehmen. Man gewinnt jedoch den Eindruck, dass man sich in dieser Frage auch hier weiterhin eher in Zurückhaltung geübt habe, um zunächst abzuwarten, was passieren würde. Für das benachbarte Glehn ist überliefert, dass dort zehn Säle von Gaststätten und Ho- tels mit insgesamt 532 Quadratmetern Fläche beschlagnahmt wor- den waren, die rund 180 Flüchtlingen Platz bieten konnten. Der zu diesemZeitpunkt noch als Korschenbroicher Amtsbürgermeis- ter amtierende Hubert Lesaar hingegen ließ die Kreisverwaltung am 19. Oktober 1945 wissen, dass in seinem Verwaltungsbezirk weder ungenutzte Schulen noch Baracken für die angefragten Zwe- cke zur Verfügung stehen würden. Außerdem seien die Säle von drei Gastwirtschaften zerstört, einer würde als Notkirche genutzt. Daher könnten in Korschenbroich höchstens 200, imbenachbarten Kleinenbroich 160 Flüchtlinge Aufnahme finden. Zugleich ver- schickte er an die Wirte Beschlagnahmungsverfügungen. 385 Der- artige Mitteilungen konnten für Jüchen, Hochneukirch, Bedbur- dyck und Garzweiler bislang nicht aufgefunden werden. Die deutliche und um eine Drohung ergänzte Kritik aus Gre- venbroich wollte man in Korschenbroich nicht unkommentiert auf sich sitzen lassen. Amtsbürgermeister Lesaar reagierte daher umgehend und ging seinerseits in die Offensive. Nachdem er die Kapazitätsmeldung vom 19. Oktober wiederholt und lediglich um die Mitteilung erweitert hatte, dass bei äußerst enger Belegung und daraus resultierenden schlechteren Lebensbedingungen die Quote um 20 Prozent auf etwa 450 Flüchtlinge erhöht werden könne, äußerte er sich grundsätzlich und sehr kritisch zu den Ver- fügungen des Landrats. Er könne sich „im Großen und Ganzen“ nicht des Eindrucks erwehren, dass imKreisgebiet „der Aufnahme von Ostflüchtlingen viel zu wenig Bedeutung beigemessen“ werde. Eine solche könne nur bei sorgfältiger Vorbereitung halbwegs ge- regelt ablaufen. Hierfür aber reiche die von der Kreisverwaltung in Aussicht gestellte Bereitstellung von Strohsäcken, Waschkesseln und anderer Einrichtungsgegenstände nicht aus; sie sei „von kurzer Hand“ und bei den spezifischen Verhältnissen der unmittelbaren Nachkriegszeit ohnehin „überhaupt nicht möglich“. Auch eine ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln erschien ihm mehr als zweifelhaft. „So lassen sich z.B. im hiesigen Verwaltungsbezirk Kartoffeln überhaupt nicht mehr beschaffen, nachdem ich die noch für den hiesigen Einkellerungsbedarf benötigten 850 Zentner Speisekartoffeln unter Anwendung von Zwangsmitteln durch Ein- ziehungsbescheide sichergestellt habe.“ Lesaar, der dann ab 15. Februar 1946 den Posten des Amtsbür- germeisters in Jüchen und später in Personalunion auch noch jenen in Hochneukirch übernehmen sollte, forderte bei der Kreisver- waltung angesichts der erwarteten Dimension des Flüchtlings- stroms klarere und durchdachtere Strukturen ein. 386 „Ich schlage daher vor, dass schnellstens bei der Kreisverwaltung anstelle des bisherigen Kreis-Unterbringungsausschusses eine Kommission ge- bildet wird, in der neben Vertretern der Kreisverwaltung und der Gemeinden je ein Vertreter der beiden Kirchen sowie sämtlicher caritativer Verbände berufen werden“, schrieb er selbstbewusst nach Grevenbroich. Außerdem erscheine ihm die zusätzliche Berufung eines Vertreters des Gaststättengewerbes sinnvoll, da insbesondere die Gastwirtschaften über große Räume und Säle verfügten, die sich als Massenquartierte anbieten würden. Eine wesentliche Auf- gabe dieser Kommission sollte nach Lesaars Vorstellungen darin bestehen, „die unterzubringenden Flüchtlinge auf die einzelnen Gemeinden je nach Leistungsfähigkeit zu verteilen“ undMaßnah- men zur Versorgung mit Einrichtungsgegenständen und Lebens- mitteln zu entwickeln und zu koordinieren. Hierbei maß er insbe- sondere der Einbindung von Vertretern der Kirchen und karitativ tätiger Organisationen größte Bedeutung bei, „weil sie durch Ein- wirkung auf die örtlichen Pfarrämter bzw. die örtlichen Vereine wesentlich zum Erfolg der Aktion beitragen“ könnten. Er selbst setzte seinen Plan vor Ort umgehend um und lud die Pfarrer, die lokalen Repräsentanten von Caritas und Rotem Kreuzes sowie den Vertreter der Wirte seines Amtsbezirks zu einer Sitzung am 5. November 1945 ein, wobei er seiner Hoffnung Ausdruck verlieh, dass „in Anbetracht des Ernstes der Lage“ alle Geladenen erscheinen würden. Ob dieses Treffen tatsächlich stattfand und – falls ja – was dort besprochen und beschlossen wurde, ist quellenmäßig leider nicht belegt.

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